Die Frauen von der Purpurküste - Julies Entscheidung
Prolog
Januar 1944
Maternité suisse d'Elne,
Schweizer Mütterklinik Elne
Julie starrte abwesend auf das rot gefärbte Wasser, das unter ihren Händen unaufhörlich in den Abfluss lief, während sie das Blut aus dem braunen Handtuch schrubbte. Der Gedanke an den winzigen Säugling, der vor einer knappen halben Stunde das Licht der Welt erblickt hatte, zauberte ihr ein schwaches Lächeln auf die Lippen. Doch bereits im nächsten Moment wurde die Freude über das neue Leben von der Sorge um die ungewisse Zukunft des Babys überschattet. Was würde dieses Kind erwarten? Wann musste die Mutter zurück in das Internierungslager, aus dem sie vor drei Wochen hergebracht worden war?
Julie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Verzweiflung zu verdrängen, die sich in ihr auszubreiten drohte. Was würden die nächsten Jahre für den kleinen Erdenbürger bereithalten? Würde er jemals ein Leben außerhalb des Lagers kennenlernen dürfen? Würde ihn eine Kindheit erwarten, die man auch so nennen konnte? Würde er mit anderen Kindern herumtoben und Spaß haben können? Oder würde er in einem Lager arbeiten, Hunger leiden und gehorchen müssen?
Die Fragen schnürten Julie die Kehle zu. Sie umfasste das Handtuch fester und tauchte es erneut in die Seifenlauge.
Zwei Schwestern betraten den Waschraum und stellten sich an das Becken gegenüber von Julie.
»Bist du dir wirklich sicher?«
»Louis hat es von seinem Cousin gehört.«
»Ich frage mich langsam, welchen Sinn unsere Arbeit hier hat, wenn die Deutschen dermaßen brutal gegen ihre eigenen Landsleute vorgehen.«
»Landsleute?« Die Jüngere lachte bitter.
Julie meinte, sich zu erinnern, dass sie Marine hieß. Da sie erst wenige Wochen hier arbeitete, war sie sich aber nicht sicher.
»Louis hat mir erzählt, was sie mit den Juden machen.«
Julie hätte am liebsten ihre Ohren verschlossen. Sie wollte das nicht hören. Natürlich kannte auch sie die Geschichten, die man sich hinter vorgehaltener Hand berichtete. All die Schreckensnachrichten drangen auch zu Julie vor, doch ihr Verstand konnte nach wie vor nicht begreifen, zu was Menschen fähig zu sein schienen.
Julie versuchte, das Gespräch der beiden Frauen auszublenden, und dachte erneut an das Baby, das zumindest erst mal sicher bei seiner Mutter verweilte, die sich hier in den nächsten Tagen von den Strapazen der Geburt erholen konnte. In Ruhe. Ohne Schikanen und ohne die ständige Angst, die die Menschen in den Lagern nie wieder losließ.
Als die Stimmen der beiden Schwestern hinter ihr plötzlich lauter wurden, drehte sie sich um.
»Julie?« Die Schwester, von der sie glaubte, sie hieße Marine, sah sie fragend an. »Du bist doch Julie, oder?«
»Ja.«
»Wir bekommen gleich drei Hochschwangere. Zwei Frauen, die angeblich für die Résistance gearbeitet haben, und eine deutsche Jüdin. Da wir heute Abend nicht voll besetzt sind, wäre es gut, wenn du noch ein wenig bleiben könntest.«
»Drei Schwangere auf einmal?«, fragte Julie überrascht.
Die andere Schwester nickte ernst. »Die Jüdin wurde vor Kurzem auf der Flucht erwischt. Ihren Mann haben die Nazis noch an Ort und Stelle erschossen. Sie ist seit zwei Wochen in Haft, hätte eigentlich nach Deutschland zurückgebracht werden sollen, aber ...« Sie verstummte, da sie alle wussten, dass eine Rückkehr nach Deutschland den sicheren Tod für diese Frau und ihr ungeborenes Kind bedeutet hätte.
»Wann kommen sie?«
»Sie müssten jeden Moment eintreffen.«
»Gut, ich bleibe.« Hoffentlich würden sich Julies Eltern keine Sorgen machen, wenn sie nicht wie üblich nach Hause käme. Doch was sollte sie tun? Zu dieser späten Stunde befand sich nur eine Hebamme im Haus. Drei Schwangere, dachte Julie beklommen. Hoffentlich standen ihnen unkomplizierte Geburten bevor.
Als Julie wenige Minuten später das nasse Handtuch aufhängte, drang aus dem Erdgeschoss Stimmengewirr zu