Die leuchtenden Tage am Bosporus
Konstantinopel
1921
Drei Jahre unter Besetzung der Westmächte
Nur
Früher Morgen. In einem Zimmer oberhalb der Schiffswerften des Bosporus schläft eine Frau. Ihr langes schwarzes Haar hat sich in der rauen See der Nacht um ihren Körper geschlungen. Sie hat vergessen, es zusammenzubinden, wie sie es normalerweise tut. Zu müde. Ein Arm liegt wie achtlos fortgeschleudert über ihrem Kopf, eine körperliche Nachlässigkeit, die sie sich am Tage niemals erlauben würde. Ihre Finger sind gespreizt, die Hand wie in einer flehenden Geste geöffnet.
Es ist still, abgesehen vom selbstgefälligen Ticken einer Uhr: eine eher klobige Konstruktion aus dunklem Holz. MADE IN ENGLAND. Ihr lautes Ticken hallt im Raum, denn neben dieser Uhr und dem niedrigen Diwan mit seiner schlafenden menschlichen Fracht gibt es nur wenige Möbel. Aber es hat einmal welche gegeben; die dunkleren Spuren auf dem Boden, die das Sonnenlicht noch nicht hat ausbleichen können, sind noch immer zu sehen. Sie stammen nicht nur von Möbeln, auch von Teppichen, viel feiner als dieses abgenutzte Ding, das übrig geblieben ist. Kelim aus Anatolien, soumak aus Persien.
Die Sonne geht auf. Sie klettert über die grünen Grasflächen am anderen Ufer des Bosporus und streicht über das Wasser wie Butter. Jetzt berührt sie Europa. Innerhalb weniger Minuten hat sie zwei Kontinente überspannt; ein tägliches Wunder. Sie vergoldet den hässlichen mechanischen Detritus der Werften. Jetzt erreicht sie das Zimmer der Schlafenden. In der muffigen Luft vollzieht sich ein weiteres Wunder: Die schwebende Staubschicht verwandelt sich in einen Schwarm tanzender Goldpartikel.
Egal wie häufig die Wohnung auch geputzt wird, der Staub bleibt. Vielleicht liegt es am Alter des Gebäudes oder daran, dass es vollständig aus Holz gebaut ist und über die Jahre Regen, brütende Hitze, Frost und Schnee ertragen hat. Es ist geschrumpft und gewachsen, hat sich gebogen und geatmet wie das lebende Wesen, das es einst war.
Mittlerweile ist das Licht lautlos die Bettlaken hinaufgewandert und hat schlafende Zehen unter einem Lüftungsschacht aus Stoff gefunden. Ein Muster aus ungeübt, aber doch ansehnlich gestickten Granatäpfeln. Ihre Farbe entspricht beinahe vollkommen den Früchten, die bald an den Bäumen in einem Garten auf der anderen Seite des Wassers reifen werden. Die roten Kerne der aufgebrochenen Früchte werden zu einem Muster und marschieren am Saum der Decke entlang; ein goldener Faden bildet die Fasern zwischen ihnen.
Jetzt erreicht das Licht die wirren Haarsträhnen. Im Schatten schienen sie schwarz - nun zeigt sich, dass sie in verschiedenen Brauntönen changieren, an manchen Stellen so leuchtend wie der goldene Stickfaden. Das Licht sammelt sich für seinen finalen Coup: den Hals zu erklimmen, die feinen Knochen des Kiefers, den leicht geöffneten Mund, den vorstehenden Bug der Nase, die Augenlider ...
Nur erwacht. Rosiges Licht. Sie öffnet die Augen. Weiß. Sie setzt sich auf, verschlafen, wischt sich über den Mund. Es war eine unruhige Nacht. Was hat sie in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf gerissen? Ein schlechter Traum. Sie kann sich nicht mehr an die Details erinnern. Je intensiver sie versucht, ihrer habhaft zu werden, desto rascher versinken sie, wie kleine Wesen, die sich im Sand eingraben. Ihr bleibt nur das Gefühl eines nachhallenden Unbehagens. Weit beunruhigender jedoch ist dieses Gefühl des Nichtwissens. Sie steht auf, betrachtet den Tag. Jenseits der flachen Dächer kann sie das Wasser erahnen, ein helles Glitzern. Bis zum Frühstück wird sie ihre Unruhe von sich abgeschüttelt haben. Da ist sie sicher. Denn was kann einen schon an einem solchen Morgen erschüttern?
Oh. Ein Zögern. Etwas fehlt. Und nun geschieht es, wie jeden Morgen. Die Erinnerung an alles, was sich verändert hat. Sie