Die Melodie meines Lebens
Ein Brief
D er stellvertretende Filialleiter, ein kleiner müder Mann mit einem dünnen graumelierten Schnurrbart, hatte ihm in einem winzigen, fensterlosen Büro mit kanariengelber Tür einen Stuhl angeboten. Als Alains Blick auf das schön gerahmte Plakat fiel, entfuhr ihm erneut ein nervöses Lachen, das dieses Mal sogar noch heftiger ausfiel und von dem unangenehmen Gedanken begleitet war, dass Gott, wenn er existierte, einen ziemlich zweifelhaften Sinn für Humor hatte. Auf dem Plakat war eine Gruppe fröhlicher Postboten und -botinnen zu sehen, die siegessicher ihre hochgestreckten Daumen in die Kamera hielten. Darüber stand in gelben Buchstaben: Was auch immer die Zukunft für Sie bereithält, die Post bringt es Ihnen. Alain gluckste erneut.
"Finden Sie den Slogan wirklich passend?"
"Sparen Sie sich Ihre Scherze, Monsieur", antwortete der Beamte.
"Scherze?", fragte Alain und deutete auf den Brief. "Dreißig Jahre Verspätung. Haben Sie dafür eine Erklärung?"
"Nicht in diesem Ton, Monsieur", entgegnete der Mann mit monotoner Stimme.
Alain schaute ihn schweigend an. Der Schnurrbärtige hielt seinem Blick einen Moment lang stand, dann griff er langsam zu einem blauen Ordner, den er feierlich aufschlug, bevor er seinen Zeigefinger anleckte und in aller Ruhe die Seiten umblätterte.
"Wie war noch Ihr Name?", murmelte er, ohne Alain anzusehen.
"Massoulier", antwortete Alain.
"Doktor Alain Massoulier, Rue de Moscou 38 , Paris, 8 . Arrondissement", las der Beamte vor. "Sie haben sicher festgestellt, dass unsere Filiale modernisiert wird?"
"Die Ergebnisse scheinen geradezu bahnbrechend zu sein", entgegnete Alain.
Der Schnurrbärtige runzelte die Stirn, aber Alain noch einmal zurechtzuweisen, wagte er dann doch nicht.
"Bei uns wird modernisiert, und daher wurden die Holzregale von 1954 , als das Gebäude errichtet wurde, abgebaut. Die Arbeiter haben vier Briefe gefunden, die unter besagte Regale gerutscht waren. Der älteste ist von ... 1963 ", ergänzte er mit einem Blick auf seine Akte. "Außerdem haben wir eine Postkarte von 1978 , einen Brief von 1983 - den an Sie adressierten - und einen letzten von 2002 . Wir haben entschieden, die Postsendungen im Rahmen unserer Möglichkeiten den Empfängern zuzustellen, sofern diese noch leben und ihre Adressen leicht herauszufinden sind. Voilà", sagte er und klappte seinen Ordner zu.
"Kein Wort der Entschuldigung?", fragte Alain.
Der Mann starrte ihn an. "Wenn Sie es wünschen, können wir Ihnen ein standardisiertes Entschuldigungsschreiben zusenden. Ist das wirklich nötig?", antwortete er nach einer Pause.
Alain betrachtete ihn, dann fiel sein Blick auf den Schreibtisch, wo ein schwerer, gusseiserner Briefbeschwerer mit dem Logo der französischen Post stand. Kurz sah er sich danach greifen und damit mehrmals auf den Schnurrbärtigen einschlagen.
"Nur um sicherzugehen", setzte der Mann erneut an, "ist dieser Brief von juristischer Natur, sodass die verspätete Zustellung zu rechtlichen Schritten gegen die Post führen könnte, geht es etwa um eine Erbschaft, Aktiengeschäfte ...?"
"Nein, nichts dergleichen", unterbrach ihn Alain schroff.
Der Schnurrbärtige reichte ihm ein Formular zum Unterschreiben, das Alain nicht einmal durchlas. Er verließ das Gebäude und kam an einem großen Baucontainer vorbei. Bauarbeiter warfen Bretter aus massiver Eiche und Metallstangen hinein, während sie in einer Sprache diskutierten, die er als Serbisch zu identifizieren glaubte. Im Schaufenster einer Apotheke sah Alain einen Spiegel und begutachtete sich darin. Graue Haare und eine randlose Brille, die seinem Optiker zufolge "jünger machte". Einen alternden Arzt zeigte sein Spiegelbild, einen alternden Arzt, wie es Tausende in diesem Land gab. Ein Arzt, w