Die Nanny
JO
Die Hotellounge hat hohe Decken und in Pastelltönen gehaltene Wände. In der Ecke hinten bröckelt der Stuck, eigentlich müsste er ausgebessert werden. Draußen regnet es so sehr, dass die Fensterscheiben wie verflüssigt aussehen. Zum Nachmittagstee ist die Lounge beinahe voll besetzt, und die Luft summt von den leisen Gesprächen rundherum. Geschirr und Bestecke klimpern. Leise Klaviermusik und gelegentliches Lachen sorgen für eine angenehm heitere Stimmung. Der Raum ist warm, aber zu groß, um gemütlich zu sein. Ich stelle mir vor, dass sich das Funkeln der Kronleuchter hübsch in meinen Augen spiegelt, obwohl sich meine Gemütsverfassung eher mit dem berühmten Munch-Gemälde »Der Schrei« beschreiben ließe.
Dennoch strenge ich mich sehr an, denn es ist Rubys Geburtstag.
»Lachs und Gurke, Jocelyn?«, fragt Mutter.
Es ist sinnlos, sie abermals zu erinnern, dass ich es vorziehe, »Jo« genannt zu werden. Ich muss es ihr schon an die hundert Mal gesagt haben, seit Ruby und ich hergekommen sind, und sie weigert sich immer noch, es zu akzeptieren. Ich wünschte, sie hätte es heute nicht mit dem Rouge übertrieben. Ihre Wangen sind so rot wie die eines Bilderbuchschweinchens, und ihr stahlgraues Haar ist zu einer weichen Tolle gekämmt und unter einem Samthaarreif fixiert.
Mutter reserviert stets den Ecktisch hier, wenn sie in die Stadt kommt. Er bietet die beste Aussicht auf den Raum. Sie erzählt mir, dass es mit dem Essen bergab gegangen ist, seit sie mit mir als Kind hier war, was, wie sie sagt, eine Schande ist. Inzwischen habe ich den Eindruck, sie kommt nur noch aus dem einen Grund her, weil sie es genießt, das Personal zusammenzustauchen. Ich habe es als Kind gehasst, mit ihr hier zu sein, und dreißig Jahre später geht es mir nicht anders.
»Danke.« Ich nehme eins der schlaffen weißen Dreiecke und lege es ordentlich in die Mitte meines Tellers.
»Ruby, Schatz?« Mutter gibt sich unerwartet charmant. Und das Ziel dieser Offensive ist meine zehnjährige Tochter Ruby. Sie sind sich vor einem Monat erstmals begegnet, und ich dachte, sie würden wie Hund und Katze sein.
Meine Mutter ist ein siebzigjähriges Relikt der englischen Aristokratie: kalt, altmodisch, versnobt, egoistisch, gierig und mit fließendem Oberklassenenglisch.
Ruby ist eine Zehnjährige, die in Kalifornien geboren und aufgewachsen ist: blitzgescheit, freundlich, verrückt nach Internetspielen, ehemaliges Mitglied einer Mädchenfußballmannschaft und wohl für immer ein Wildfang.
Was die Kompatibilität der beiden betrifft, lag ich vollkommen falsch. Seit ihr Dad gestorben ist, bin ich der Mittelpunkt von Rubys Welt, doch nun droht mir auf einmal ernst zu nehmende Konkurrenz von meiner Mutter. Direkt vor meiner Nase sehe ich ein Band zwischen den beiden entstehen. Es kommt mir vor, als würde sich meine Mutter ungebeten in die Lücke drängen, die Chris in Rubys und meinem Leben hinterlassen hat, und mir ist alles andere als wohl dabei.
»Danke, Granny.« Ruby schenkt meiner Mutter ein strahlendes Lächeln, als sie ein Sandwich von der vierstöckigen Etagere nimmt. Es ist die größte im Raum. Auf der Karte wird sie als »Dekadenter Nachmittagstee« geführt. Meine Mutter hat sie genüsslich bestellt, auch wenn der Preis pro Person einem die Tränen in die Augen treibt. Ich glaube, sie macht es, um mich zu beschämen, weil ich Ruby keinen Geburtstagskuchen gebacken habe. Ich hatte einen gekauft, allerdings einen günstigen aus dem Supermarkt. Mehr war nicht drin.
Rubys Augen leuchten vor Entzücken, und sie knabbert affektiert am Rand ihres Sandwiches. Mir gefällt das nicht. Ruby ist eher ein Mädchen, das Dinge möglichst schnell runterschlingt, um gleich wieder nach draußen zu rennen. Oder war sie. Ich bin erstaunt darüber, wie sie sich in das englische Leben stürzt, seit wir hier angekommen sind. Es ist, als würde sie all die neuen Erfahrungen nutzen, um die Leere zu füllen, die der Tod ihres Vaters in u