Die Unverhofften
2_Ein Leben in Eisenstein
Der Postzug rauschte vorbei, das welke Friedhofsgras verneigte sich zum Abschied. Ein paar Tauben kreisten über dem Dach des Bahnhofsgebäudes. Nun erfasste auch Maria der Fahrtwind und wehte ihr ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Ihr Blick folgte dem Zug, der aus Eisenstein Richtung Westen abdampfte. Eben hatte sie wieder ein Schreiben von ihrem Cousin aus Amerika bekommen. Seit über einem Jahr war der schon drüben. »Durch Erwin und seine Frau hab ich eine Bestimmungsadresse. Und stell dir vor, es gibt sogar ein Waldler-Viertel in Chicago. Und reiten kann man über die ganze Prärie ...« Die letzten Worte kamen Maria schwer über die Lippen, sie hatte nicht damit gerechnet, dass es sie so anrühren würde. Dennoch stand ihr Entschluss fest, im Frühjahr wollte sie nachziehen, was aber auch bedeutete, dass sie nicht mehr das Grab ihres Vaters würde besuchen können. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, es war niemand da, vor dem sie sich hätte genieren müssen.
Der Friedhof war schon ziemlich heruntergekommen. Die Hecken vis-à-vis vom Eingang verwildert, das schlichte Mauerwerk bröcklig, von Pflanzen aufgesprengt. Manche Totenbretter waren umgefallen oder waren umgetreten worden. Nach dem Fortgang der letzten Fremdarbeiter gab es niemanden mehr, der den Friedhof pflegte. Die Einheimischen hatten die Arbeiter nicht ausstehen können, sie nannten die angeheuerten Männer halb verächtlich, halb ängstlich »Baraber«. Und da der Magistrat den Fremdarbeitern keine Bestattung auf dem offiziellen Friedhof gestattet hatte, war ein Extrafriedhof angelegt worden. Ein Provisorium neben der Bahntrasse, das von allen nur »Italienerfriedhof« genannt wurde.
Maria legte eine rote Nelke nieder, dann betete sie das Vaterunser. Sie gab sich Mühe, jedes Wort bewusst zu sprechen. Danach blieb sie noch ein wenig und versuchte, sich alles genau einzuprägen; das Brett, auf dem einst der Leichnam ihres Vaters aufgebahrt worden war, die Verzierungen und Einkerbungen, das Giebeldreieck als Abschluss über dem gemalten Kreuz, die Inschrift darunter: Das was ihr seid / Das war ich einst / Und was ich bin / Werdet ihr noch sein. Weiter unten hatte ein Freund eingeritzt: Gleicher Lohn / Für gleiche Arbeit / Überall auf Erden. Ein anderer hatte am Fuß des Bretts etwas Englisches eingekerbt: Driving the Last Spike, In Memoriam Willi Raffeiner. Unzählige Male hatte sie hier schon gestanden und Gespräche mit dem toten Vater geführt. Sie küsste das rissige Holz, dann ging sie durch das quietschende Holzgatter nach Hause.
Meist reichten Vorschusszahlungen nicht zur Deckung der Löhne, Kostenvoranschläge waren falsch berechnet oder organisierte Streiks brachten die Bauunternehmer in arge Bedrängnis. Sämtliche Arbeiter, angeworben aus verschiedensten Landstrichen, ackerten wie die Ochsen. Ihr Leben war knochenhart, oft nur mit Schaufeln, Spitzhacken und Schubkarren ausgestattet, trieben sie die Stollen in den Berg. Mit ihren breitkrempigen Hüten, die je nach Wetterlage als Regen- oder Sonnenschutz dienten, waren die Bahnarbeiter schon von Weitem gut zu erkennen. Sie verströmten die Aura der Gesetzlosigkeit und brachten pionierhaftes Wildwestflair ins Waldgebiet. Wirtsstuben, Kegelbahnen und Spielhöllen schossen damals im Umfeld der Großbaustellen aus dem Boden. Marketenderinnen boten ihre Dienste feil, doch nicht nur die Fremdarbeiter vergnügten sich mit ihnen, manche Dörfler verprassten viel Geld zwischen den Schenkeln der Frauen und an den Tresen der Tavernen. Als einmal ein Bierbrauer ankündigte, den Preis für eine Maß Bier von achtundzwanzig auf zweiunddreißig Pfennige anzuheben, kam es zu Krawallen und Arbeitsniederlegungen. Dies alles geschah zum großen Leidwesen der Ortsgeistlichen, die ausschließlich die Fremdarbeiter für den Sittenverfall verantwortlich machten. Sonntäglich wetterten sie von der Kanzel gegen die »Saufbolde« und »Hurenmenscher«, die si