Die Zuckerbäckerin von Riga
Im Winde auf- und abschwebend flogen Silbermöwen, Vorboten des heimatlichen Kontinents, dem Schiff entgegen. Neugierig umflatterten sie den Bug des deutschen Frachtdampfers Eleonora, der sich 1896 unter Führung von Kapitän Hilmar Pilar zügig der europäischen Küste näherte. Doch im Schiffsbauch, ohne Licht, ohne Frischluft, kämpfte die knapp achtzehnjährige Madelaine Elisabeth Gürtler mit jeder Seemeile gegen Seekrankheit und Albträume.
Wie mochte Alabaster aussehen? Madelaine delirierte seit Tagen. Trotz ihrer Übelkeit stellte sie sich weiße Blüten vor, so blendend weiß wie die in der chilenischen Sonne gleißenden Kristalle der Salpetersalze, die auf Ladebühnen in der Oficina, der verhassten Salpeterfabrik, zu riesigen Kegeln gehäuft wurden. Alabaster, umflort von einer selig machenden Kraft, die Wunden schloss, Schmerzen nahm und Trauer in Frohsinn wandelte. Madelaines Zähne knirschten, sie versuchte zu schlucken. Vage spürte sie den brackigen Lappen, den ihre Mutter ihr unters Kinn legte, und fühlte fiebernd die Nässe ihres verklebten Körpers. Doch die Erinnerungen drückten sie wie eine Ertrinkende zurück - in die Trauer um den toten Vater. Madelaines Seele war wund und flatterte wie ein verängstigter Vogel, der sich in einem fremden Haus verirrt hat.
Erst als die Eleonora sich der Küste des portugiesischen Festlands näherte, fiel sie in einen traumlosen Schlaf.
***
Kapitän Hilmar Pilar betrachtete nachsinnend ein bauchiges weißgraues Wolkengebilde, das backbords seines Dampfschiffs auftauchte - rund wie die Großsegel eines Windjammers, in die der kräftige Wind blies, rund wie Busen und Hüften einer Frau. Pilar schnalzte mit der Zunge und rief sich Figur und Gesicht eines weiblichen Passagiers in Erinnerung, der tief unten im Bauch seines Schiffs auf den harten Pritschen des Zwischendecks lag, nur durch eine Bretterwand von der kostbaren Salpeterladung und den Edelhölzern getrennt.
Eine schmucke Deern, das ist sie, dachte er, mit Augen, dunkel und schimmernd wie Südseemuscheln, Lippen ..., er überlegte amüsiert ... na ja, wie ein aufgeschlagener Granatapfel. Und unter den Lumpen ein Körper, der nach Zimt und Vanille duften könnte. Er runzelte die Stirn und fügte in Gedanken hinzu: Wenn sie gesund und sauber wäre ... das arme Ding! Kam schon schmutzig und unglücklich an Bord.
Steuerbordseitig lag nur wenige Seemeilen entfernt die nordspanische Küste. Die Fahrt von Chile, rund ums sturmgepeitschte Kap Hoorn, quer über den Atlantik war ohne Zwischenfälle verlaufen. Der Wind blies von Nordwest, und hätte er, Kapitän Pilar, noch wie früher einen schönen Windjammer unter den Füßen, hätte er ohne Probleme mit vollen Segeln in den Ärmelkanal einlaufen können. Doch die Zeit der stolzen Großsegler, die als Frachtschiffe eingesetzt waren, ging zu Ende. Dieses war nun schon die sechste Fahrt von Hamburg nach Valparaíso, und er hatte mehr und mehr Gefallen an diesem modernen, technisch aufgerüsteten Dampfschiff und seiner Geschwindigkeit gefunden.
Mit der messerscharfen Kante ihres begradigten Klipperbugs durchschnitt die Eleonora die leichte Dünung der See, volle Kraft voraus. Vor gut zwei Wochen hatte sie in Valparaíso, Chiles berühmtesten Hafen, Salpeter, Tropenhölzer, Kisten mit Zigarren und Zigaretten, Post und Pakete geladen. Seitdem war sie unterwegs, hatte nur kurz in Lissabon Anker geworfen und fuhr jetzt weiter gen Osten, Zielhafen Hamburg.
Die Mehrzahl der gut dreißig Erste-Klasse-Passagiere lag in Liegestühlen aus Teakholz auf dem Oberdeck und löffelte heiße Brühe. Es waren vornehmlich Techniker, Vertreter deutscher Handelshäuser, Kaufleute und höhere Beamte. Manche von ihnen kannte Kapitän Pilar von früheren Reisen. Allesamt eigentlich langweilige Leute. Interessanter waren da schon der Bankdirektor und der Naturforscher mit weißem Kakadu, am unterhaltsamsten aber war Urs Martiel