Earl of London
1. KAPITEL
DARCY
An einem Frühlingsmorgen hatte die englische Landschaft etwas Magisches an sich. Von den taubenetzten Spinnennetzen bis zu den ersten Sonnenstrahlen, die Schneeglöckchen und Krokusse aus ihren Verstecken lockten und sie wie rebellische Farbtupfer aussehen ließen, blühend allen Widrigkeiten des Winters zum Trotz. Für mich war es das Paradies.
Am Sonntagmorgen gehörte es zu meinen liebsten Beschäftigungen, über das Anwesen von Woolton zu reiten. Die Ländereien gehörten meiner Familie seit Generationen, und im Augenblick lag es in meiner Verantwortung, sie für die kommenden Generationen der Familie Westbury zu erhalten. Ich hatte fast mein ganzes Leben hier verbracht. Dieser Landsitz war die Konstante gewesen, als zuerst mein Vater und dann meine Mutter mich und meinen Bruder bei unseren Großeltern zurückließen. Woolton war ein Zuhause, ein sicherer, glücklicher Ort, an dem ich alles Schlechte dieser Welt vergessen konnte. Und ich tat mein Bestes, damit hier alles so blieb, wie es immer gewesen war. Ich wollte die Menschen würdigen, die dasselbe vor mir getan hatten, und es für die bewahren, die nach mir kommen würden.
Die Verantwortung war riesig. Nicht nur wegen kommender Generationen, sondern auch wegen der Existenzen, die bereits jetzt von dem Anwesen abhingen, vom Gärtner bis zu den Wildhütern, dem Stallpersonal und all den Menschen, die Woolton Hall, unseren Familiensitz, instand hielten. Ihre Angehörigen verließen sich darauf, dass ich ihnen weiterhin Arbeit verschaffte. Ich betrachtete dies als eine Ehre und gleichzeitig als meine Pflicht. Und an Tagen wie diesen war es zudem ein großes Vergnügen.
Als wir meine Lieblingsstelle erreichten, stieg ich von Bellas Rücken. Über Nacht hatte es geregnet, und obwohl es inzwischen aufgehört hatte, war der Rasen noch immer nass und rutschig. Eigentlich überprüfte ich zwar gerade die Grenzen des Anwesens und vergewisserte mich, dass alles in bester Ordnung war, aber im Grunde ging es mir vor allem um die Aussicht.
»Tja, Bella, ich muss mich hier an dir festhalten«, lächelte ich, ergriff die Zügel und führte das Pferd zum Aussichtspunkt. »Sieh dir das an! Ich glaube, man kann hundert Meilen weit sehen.« In der Ferne riss die Hügellandschaft der Chiltern Hills den Horizont auf, und Hecken, Bäume und Kirchturmspitzen unterteilten ein Flickwerk aus Feldern, als gäbe es weder Autos noch Menschen. Der Wind trug Vogelgezwitscher zu mir herüber, und ich schloss die Augen und atmete die kühle Morgenluft ein. Was für ein Glück, an einem Ort wie diesem zu leben!
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich zwischen den Bäumen etwas bewegte. War eins unserer Rehe oder ein Hirsch in den Wald gewechselt?
Angestrengt blinzelnd erkannte ich, dass es ein Mensch war. Ein Mann. Ein ziemlich großer Mann, der sich auf das Handy in seiner Hand zu konzentrieren schien, während er auf mich zukam. Ich beobachtete ihn, während Bella und ich weiter unbemerkt blieben. Ich kannte ihn nicht. Er war etwa Mitte dreißig und trug Jeans und Wanderschuhe. Mit einer Hand fuhr er sich durch das schokoladenbraune Haar, und sein kantiges Kinn wurde von der diesigen Morgensonne angestrahlt, als er den Blick vom Handy löste, um den Boden vor sich zu überprüfen. Vielleicht handelte es sich um einen Immobilienmakler oder Landvermesser. Er befand sich auf dem Grundstück von Badsley House, das seit kurzer Zeit zum Verkauf stand, weil Mrs Brookley gestorben war. Ich war hin- und hergerissen. Wollte ich lieber mit meinem Pferd allein bleiben und die Aussicht genießen, oder wollte ich in Erfahrung bringen, was dieser Mann an der Grenze unseres Familiensitzes zu suchen hatte? Und möglicherweise wollte ich auch überprüfen, ob er aus der Nähe genauso ansehnlich war, wie er aus der Ferne betrachtet wirkte. Mit gesenktem Kopf kam er auf Bella und mich zu, während der Morgennebel seine Füße einhüllte. Wie schade, dass ihm dieser wunderschöne Morgen