Elsas Glück
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Pädagogisches Institut
Ein Handkarren blockierte die Gleise, und die Tramway blieb direkt vor dem Wiener Burgtheater stehen. Nervös lehnte sich Elsa aus dem Fenster. Eine ganze Ladung Salzgurken und Sauerkraut war auf der Straße gelandet. Die Flüssigkeit versickerte zwischen den Pflastersteinen. Der arme Junge, dem das Missgeschick passiert war, stand händeringend daneben und betrachtete fassungslos das Malheur. Saurer Essiggeruch stieg durch die offenen Fenster ins Innere des Waggons. Elsa rümpfte die Nase. Sie war wieder einmal zu spät dran. Leider gehörte Pünktlichkeit nicht zu ihren Stärken. Angespannt warf sie einen Blick auf ihre neue Armbanduhr, die sie letzte Woche zum zweiundzwanzigsten Geburtstag von ihren Eltern bekommen hatte. »Damit du nicht ständig zu spät kommst«, hatte ihr Vater, Jakob Sonnstein, gesagt. Das Geschenk würde ihr heute nicht weiterhelfen. Diesmal war es nicht Elsas Schuld, dass sie sich verspätete. Sie hatte nicht vorhersehen können, dass sich auf der kurzen Strecke von der Universität zum Burgring ein Unfall ereignete. Wenn Elsa jetzt ausstieg und einen Teil der Strecke lief, würde sie es vielleicht noch rechtzeitig zum Beginn der Vorlesung in den Hörsaal schaffen.
Sie stand auf und drängte zum Ausgang. Zum Glück hatten die Waggons der Elektrischen offene Plattformen ohne Türen. Elsa konnte abspringen. Vor ihr lag der Wiener Rathauspark, dahinter erhob sich der neugotische Prunkbau mit seinen zahlreichen Türmchen und Erkern. Mit dem Blick auf den Rathausmann, einer riesigen Ritterfigur auf der Spitze des höchsten Turms, setzte Elsa zum Sprung an. Doch mitten in der Bewegung hielt eine unfreundliche Stimme sie zurück: »Halt! Das Ein- und Aussteigen ist nur an den Stationen gestattet.«
Elsa blickte in das grimmige Gesicht einer Schaffnerin, die im hinteren Teil des Wagens, etwas erhöht, hinter einem Schalter saß und von ihrem Platz aus den ganzen Waggon unter Kontrolle hatte.
»Die Straßenbahn steht doch.« Elsa versuchte es mit ihrem charmantesten Lächeln und appellierte an das Mitgefühl der Frau. »Ich muss ganz dringend zu einer Veranstaltung. Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Sie schauen kurz zu den Essiggurken auf der Straße, und ich steige aus? Bitte!«
Doch der Versuch prallte an der unfreundlichen Schaffnerin ab. »Vorschrift ist Vorschrift. Wo komma denn da hin, wenn ein jeder Fahrgast a Ausnahme haben will. Nehmen's gefälligst wieder ordentlich Platz, so wie es sich ghört. Es wird no a bisserl dauern.«
Sollte Elsa sich über die Vorschrift hinwegsetzen und einfach abspringen? Sie erblickte einen Polizisten, der am Straßenrand stand und den Ablauf des Salzgurkenunfalls auf einem kleinen Notizblock festhielt. Seufzend ließ Elsa es bleiben. Es war zwecklos. Sie wollte sich nicht mit dem Hüter des Gesetzes anlegen. Die Schaffnerin konnte sie nicht überzeugen. Noch vor ein paar Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass Frauen in Männerberufen tätig waren. Dies war wohl die einzig erfreuliche Entwicklung, die der schrecklichste aller Kriege mit sich gebracht hatte. Als alle Männer an der Front gewesen waren, hatten Frauen die anstehenden Arbeiten übernommen. Die neu erworbenen Privilegien hatten sie sich auch nach Kriegsende nicht nehmen lassen. Seither gab es in Wien Schaffnerinnen, Briefträgerinnen, Straßenbahnfahrerinnen und Ärztinnen. Sogar in Tischlereien waren ein paar Frauen anzutreffen.
Resigniert ließ sich Elsa wieder auf einer der Holzbänke nieder. Ihr gegenüber saßen ein Mann und eine Frau. Beide waren in etwa im Alter von Elsas Eltern.
»Was ham's denn für einen wichtigen Termin, Fräulein?«, erkundigte sich die Frau neugierig. Sie beugte sich zu Elsa und bot ihr eine der Krachmandeln an, die sie aus einem Papiersäckchen naschte.
»Danke.« Elsa griff bereitwillig zu und steckte eines der Seidenglanzbonbons mit cremigem Haselnusskern in den Mund. »Ich möchte zu einem Vortrag in die Bu