Gott der Barbaren
1 Der Hafen der Düfte
Shanghai, im Sommer 1860
Als ich noch eine Frau und zwei Hände hatte, war ich ein glücklicher Mann. Das wird mir erst bewusst, seit ich in Shanghai bin und viel Zeit habe nachzudenken. Der Juni neigt sich dem Ende zu, und in dem Haus, in dem ich liege, stöhnt das Gebälk unter der Hitze. Vom nahen Hafen dringt das Gebrodel der Massen herüber, die Shanghai verlassen wollen, bevor die Rebellen kommen. Bis zu zehn Silberdollar, wurde mir erzählt, verlangen die Bootsbetreiber, nur um Passagiere auf die andere Seite des Flusses zu bringen, wo sie keineswegs sicher, sondern sich selbst überlassen sind. Aus dem Yangtze-Tal strömen immer neue Flüchtlinge herbei, wie eine riesige Bugwelle treibt sie der Krieg vor sich her. Wäre mir unterwegs nicht das Unglück zugestoßen, das mich seit einem Dreivierteljahr ans Bett fesselt, wäre ich längst in Nanking, der Himmlischen Hauptstadt am Unterlauf des großen Flusses. Oder nicht? Wäre etwas anderes dazwischengekommen, das mich mehr als die linke Hand gekostet hätte?
Wenigstens bin ich Rechtshänder. Zwischen den Fieberattacken, die mich in regelmäßigen Abständen heimsuchen, gibt es nichts zu tun, und meine Gastgeber - Reverend Jenkins von der London Missionary Society und seine Frau Mary Ann - haben mir ein paar Bögen Papier ins Zimmer gelegt. Für Briefe, meinten sie, aber wem sollte ich schreiben? Mit Elisabeth rede ich zwar gelegentlich, aber nur nachts, wenn der Schlaf ausbleibt und Erinnerungen an die Stelle der Träume treten. Dann denke ich über alles nach, was seit dem Beginn meiner Reise geschehen ist. Für jeden von uns gibt es eine Grenze dessen, was er aushalten kann, ohne ein anderer zu werden, und ich hatte meine schon lange vor jenem verhängnisvollen Tag auf dem Poyang-See überschritten. Ohne es zu merken. Nachdem die Revolution zu Hause gescheitert war, wollte ich in Amerika ein neues Leben beginnen, aber es kam anders, und jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es das überhaupt gibt - ein neues Leben. Wir folgen unserem Weg, ohne zu wissen, wohin er führt. Mich verschlug es über Rotterdam und Singapur nach Hongkong, wo ich für kurze Zeit glücklich war, dann immer tiefer hinein in dieses vom Krieg geschundene Land. Auf dem See war ein chinesischer Pirat schneller mit der Waffe als ich, und nicht einmal Alonzo Potter konnte meine Hand retten. Jetzt habe ich alles verloren, wenig zu bereuen und keine Ahnung, wie es weitergehen soll.
Kann man mit einer Hand helfen, den Kaiser von China zu stürzen?
Wann und in welcher Stärke die Rebellen Shanghai erreichen werden, weiß niemand. Bis vor wenigen Wochen waren sie in Nanking eingeschlossen, nun überrennen ihre Armeen das Yangtze-Tal und sorgen für Panik in den Städten. Wie einst Napoleons Soldaten in Italien tauchen sie immer im Rücken des Feindes auf, ohne sich von Flüssen oder Bergen aufhalten zu lassen. Dem North China Herald zufolge soll ihnen Suzhou bereits gehören, und die Rauchsäule über Hangzhou habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ein Aufstand von armen Bauern und Köhlern aus dem Süden, die glauben, Gottes Sohn zu folgen, dem Himmlischen König, der außerdem der Vetter meines besten Freundes ist. Das Schreiben, das mich nach Nanking einlädt, steckt in der Tasche meines Gewands, zerfleddert und aufgeweicht, aber das Siegel kann man noch erkennen. Fragt sich nur, ob von mir genug übrig ist, um den Weg zu wagen. Stromaufwärts, mitten durch die große Flut, die ganz China zu verwüsten droht.
Philipp Johann Neukamp ist mein Name. Ältester Sohn eines Zimmermeisters aus dem Märkischen, aber ohne Beruf, seit ich vor einem Jahr aus der Basler Missionsgesellschaft ausgeschieden bin. Was danach passiert ist, habe ich noch nie jemandem erzählt, und um die Geschehnisse verständlich zu machen, muss ich ein wenig ausholen. Die Ereignisse von 48 darf ich als bekannt voraussetzen; meine Rolle darin war ni