Heartless
1. KAPITEL
Aidy
»Du musst es zurückgeben.« Wren wirft mir einen missbilligenden Blick zu, wie ihn nur eine große Schwester draufhat, und dreht sich dann wieder zu ihrem Schminkspiegel um. »Mensch, Aidy, es ist schon eine ganze Woche her!«
»Wir wissen doch gar nicht, ob er es überhaupt sucht.« Ich sitze im Schneidersitz auf ihrem Bett, drücke mir das tabakfarbene Notizbuch an die Brust und sauge begierig seinen Leder- und Aftershaveduft in mich auf.
»Du weißt nicht mal, ob es wirklich einem Mann gehört.« Sie drückt einen kirschgroßen Klecks Sonnencreme auf ihre Fingerspitzen und verreibt ihn zwischen den Handflächen.
»Die Handschrift verrät es«, widerspreche ich. »Es gehört definitiv einem Mann. Daran gibt es gar keinen Zweifel. Und das Ding ist voll mit Geschwafel zum Thema Liebe. Er schreibt auf eine Art über Frauen, wie es nur Männer können.«
»Jetzt bist du also auch noch Literaturexpertin?«
Ich blättere durch die verwitterten Seiten bis zu einer Stelle, die mit einem Eselsohr markiert ist, und lasse die Finger über die mit schwarzer Tinte geschriebenen Sätze gleiten.
Nach einem Räuspern lese ich laut vor: »Tränen fielen in ihr Champagnerglas, als sie sich über das Balkongeländer beugte. Sie war allein, so wie es in diesen Tagen häufig der Fall war. Die Frau war gleichzeitig der Inbegriff von Trauer und Schönheit; Glitzer in den Haaren, Tränen in den Augen und die Lippen zu Unrecht ungeküsst, während der Rest der Welt das neue Jahr einläutete.«
»Das ist ja deprimierend.« Wren drückt einen Klecks Concealer auf ihren Handrücken und greift nach einem kleinen Pinsel. Während der nächsten zwanzig Minuten wird sie sich zu einer Art Ehrenmitglied der Kardashian-Familie verwandeln und dann zu einem Vorstellungstermin gehen, bei dem irgendeine Realityshow-Schauspielerin aus L._A. eine Visagistin für New York sucht. L._A.-Makeup und New-York-Makeup sind zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe, und eine begabte Visagistin in einer Stadt voller talentierter Mitbewerber muss eben auch wissen, wann man wie eine auszusehen hat.
»Das ist nicht deprimierend. Es ist bittersüß.« Ich blättere die Seiten durch und inhaliere den Duft nach Papier, der mein Gesicht streift. »Und romantisch.«
»Der Typ ist völlig von dieser Frau besessen«, findet Wren. »Auf eine absolut ungesunde Art.«
»Es ist eine wunderschöne tragische Liebesgeschichte, Wren. Er ist bis über beide Ohren in eine Frau verliebt, mit der er niemals zusammen sein kann, und dieses gesamte Tagebuch steckt voller Liebesbekenntnisse und dokumentiert all ihre gestohlenen Momente.« Seufzend blättere ich weiter bis zu einem anderen Abschnitt. »An diesem Abend habe ich einen Blick von ihr gestohlen, doch sie stahl mein Herz. Es war das Vorspiel zu einem Krieg der Liebenden, den keiner von uns beiden gewinnen würde.«
»Gruselig«, trällert Wren.
Ich suche eine andere Passage heraus, um ihr meinen Standpunkt zu beweisen: »Heute Abend hätten wir uns beinahe geküsst. Ich habe ihre weichen Hände in meine genommen und fühlte mich unglaublich zu ihr hingezogen, während unsere Lippen voreinander schwebten, nur durch wenige Zentimeter und ein unausgesprochenes Was-wäre-wenn getrennt.«
»Gib mir das Ding.« Wren entreißt mir das Tagebuch und schlägt es willkürlich irgendwo auf. »Heute Abend habe ich meinen Nachbarn dabei beobachtet, wie er sein Dienstmädchen an der raumhohen Glasscheibe seiner Penthouse-Bar gevögelt hat. Bei jedem Stoß wippten ihre Brüste auf und ab, während die beiden ihre Hemmungslosigkeit über die schneebedeckten Straßen der Stadt unter ihnen regnen ließen. Er umfasste mit der Hand ihr Kinn und flüsterte ihr Worte ins Ohr, die nur sie beide jemals wissen werden.«
Sie reicht es mir zurück, mit gekrauster Nase und seit