Inselglück im Schneegestöber
Semra
Frau Wagner positionierte sich vor dem Standspiegel mit den goldenen Verzierungen. Es war ihr anzusehen, wie stolz sie war. Ihre schwarze Gucci-Hose musste um zwei Zentimeter eingenäht werden. Heimlich verdrehte ich die Augen. In wenigen Wochen würde sie erneut in meiner Schneiderei stehen, aber dann mit der frustrierenden Bitte, die Naht wieder aufzutrennen.
Frau Wagner war durch ihre Essstörung eine regelmäßige Kundin. Aus ihren Berichten wusste ich, dass es nicht am Geldmangel lag, dass sie die Änderungen bei mir in Auftrag gab. Ich an ihrer Stelle hätte mir sämtliche Konfektionsgrößen in den Kleiderschrank gelegt, um immer passende Hosen vorrätig zu haben. Frau Wagners Besuche in meinem Atelier gehörten zu den wichtigsten Terminen in ihrem Terminkalender, was sie an ihren Kaffeeklatschtagen gern erwähnte. Was nicht unbedingt zu meinem Nachteil war. Ich gehörte inzwischen zu den angesagtesten Adressen für die Damen mit künstlich aufgeblasenen Terminkalendern.
Mir sollte es nur recht sein, wenn gelangweilte Damen mich mit ausreichend Arbeit versorgten und mein Gehalt sicherten. Ich konnte mich vor Einladungen kaum noch retten, denn viele meiner Kundinnen hatten sich vorgenommen, mich an ihren Kaffeetisch zu bitten. Ohne Erfolg natürlich. Diesen sicher gut gemeinten Einladungen nachzugehen, würde bedeuten, dass ich eine Aushilfe einstellen müsste. Die Sahnetorten hätten dann zur Folge, dass ich auch bald meine Kleider ändern musste. Dafür fehlte mir dann doch der Sinn.
Meine Schneiderei lief zufriedenstellend. Änderungen gehörten zwar nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber die Folgeaufträge hatten es meistens in sich. Da ich regelmäßig neue Modelle schneiderte und sie in mein Schaufenster stellte, kam bei manchen Änderungen auch ein neuer Auftrag dazu.
Frau Wagner zappelte ungeduldig.
»Bitte stillstehen«, sagte ich gespielt streng.
»Hach, ich habe nicht viel Zeit. Geht es ein bisschen schneller?«
»Sie wissen doch, Frau Wagner, wenn Sie nicht stillstehen, dauert es länger.« Die etwa sechzigjährige Frau duzte mich, während ich lieber beim Sie blieb. So kurz vor der Adventszeit konnte ich mich über die Auftragslage nicht beklagen. Mein Auftragsbuch war gefüllt mit einigen kleinen, aber auch größeren Arbeiten.
»Hast du zwischen den Weihnachtstagen und Silvester wieder geschlossen?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Wie immer, nur kurz vor Weihnachten. Zwischen den Tagen habe ich meinen Laden geöffnet, Frau Wagner. Wenn Sie zum Jahreswechsel noch Wünsche haben, müssen Sie trotzdem in den nächsten Tagen vorbeikommen.«
»Woher soll ich das denn wissen, Semra? Meine Diät ist momentan recht erfolgreich, aber bei den Angeboten auf dem Weihnachtsmarkt kann ich nie vorhersehen, was meine Taille für Pläne hat.« Sie lachte glockenhell und fuhr mit der Hand über ihren Po. »Du hast wohl nie Probleme mit deinem Gewicht, oder?«
Ich grinste hinter ihrem Rücken. Natürlich hatte ich meine Problemzonen, aber mit Frau Wagner darüber zu diskutieren, war nicht in meinem Interesse.
Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte sie sich zu mir um. »Nein, offensichtlich nicht, du Glückliche.« Seufzend legte sie ihren Zeigefinger unter mein Kinn. »Aber etwas blass bist du. Du musst ins Solarium.«
»Ich vertrage die Sonne nicht«, log ich. Sanft drehte ich sie zurück vor den Spiegel. »So, fertig. Bitte Vorsicht beim Ausziehen, nicht dass Sie sich an den Nadeln pieken.«
»Darf ich das gute Stück morgen abholen?«
»Morgen kurz vor Geschäftsschluss, dann müsste ich es fertig haben.«
Frau Wagner bedankte sich überschwänglich und stolzierte grußlos auf die Straße hinaus. Ich blies die Wangen auf und ließ die Luft laut entweichen.
Nach meinem Studium zur Designerin hatte ich eine Anstellung in einem Brautmodengeschäft angenommen. Meine Hauptaufgabe waren Änderungen der Traumkleider gewesen. Ich wusste schon vor der