Jarmy und Keila
Erstes Kapitel
1.
In Wirklichkeit hieß er Jeremia Eliezer Holtzman, aber am Krochmalna-Platz, wo man nicht genug Geduld für lange Namen hatte, nannte man ihn nur Jarmy und hängte ihm den Spitznamen Stachel an. Seine Frau Keila Leah Kupermintz wurde wegen ihrer feuerroten Haare die Rote Keila genannt. »Stachel« kam von den stacheligen Kletten, mit denen die Jungen in Warschau am neunten Aw Passanten bewarfen. Verfing sich so eine Klette in einem Bart oder im Haar eines Mädchens, konnte man sie nur schwer wieder lösen. Jarmy Stachel stichelte gern bei seinen Kumpanen und den Frauen, mit denen er sich einließ.
Mit zweiunddreißig hatte Jarmy Stachel im Pawiak-Gefängnis schon vier Strafen wegen Diebstahl abgesessen (er war ein Meistertaschendieb). Auch wegen Mädchenhandel war er mehrere Male eingebuchtet worden. Die Rote Keila war neunundzwanzig und hatte bereits drei Bordelle von innen gesehen - eins in der Krochmalna, eins in der Smocza, eines in der Tamka-Straße. Ihr erster Lude war Itsche Einauge persönlich gewesen. Jarmy war im Ganoventreff in der Krochmalna-Straße auf Keila gestoßen. Nachdem er einen Tag und eine Nacht lang mit ihr zusammen gewesen war, nahm er sie mit zu einem Rabbi im Revier, in die Stavskystraße, und heiratete sie. Anders als andere Rabbiner fragte dieser aus der Stavskystraße nicht nach, warum Paare, die zu ihm kamen, heiraten oder sich scheiden lassen wollten. Er nahm einfach die drei Rubel Gebühren und füllte die nötigen Papiere aus.
Es war 1911, sechs Jahre nach der Revolution. Die Streiks und die Bombenleger hatten das Ihre getan und dem Zaren Nikolaus eine Verfassung abgezwungen, aber die erste Duma hatte sich schon wieder aufgelöst und die zweite und dritte waren gewählt. In Russland wie in Kongresspolen stritten sich die Parteien. Die Schwarzhunderter in Russland hetzten zu Pogromen auf, und die Nationaldemokraten in Polen verlangten den Boykott jüdischer Waren. Junge Juden gingen zu Hunderttausenden heimlich über die Grenze nach Galizien und Preußen und schlugen sich weiter übers Meer nach Amerika durch, um dort ihr Glück zu suchen. In jiddischen Zeitungen hatten die Politiker den Balkan schon seit Jahren mit einem Pulverfass verglichen. Sie sagten Krieg voraus, nicht nur zwischen Serbien, Bulgarien, Montenegro und der Türkei, sondern sogar zwischen Russland und Deutschland. Dr. Herzl war tot, aber die Zionisten hielten trotzdem ihren jährlichen Kongress ab. Sozialisten schrieben in ihren Aufrufen, der Zionismus sei eine eitle Fantasterei, und die jüdischen Arbeiter sollten lieber zu Hause für den Sozialismus kämpfen, statt von einem Land zu träumen, das zur Hälfte eine Wüste und außerdem von Arabern bewohnt sei. Der Sultan Abdülhamid würde ihnen niemals ein verbrieftes Recht auf Einwanderung geben.
Aber im Ganovennest in der Krochmalna Nummer 6 lasen sie keine Zeitungen und kümmerten sich nicht um Politik. Wohl erinnerten sie sich an den Anschlag der Sozialisten auf die Unterwelt, als die Rebellen in die Bordelle stürzten, die Huren verprügelten, das Bettzeug auseinanderrissen, Augen grün und blau schlugen und Rippen brachen. Aber das war lange her. Eine Menge Randalierer waren nach Sibirien verbannt, etliche in der Zitadelle erhängt worden, und eine ganze Reihe von ihnen hatte den »Blutigen Mittwoch« nicht überlebt.
Jarmy konnte die jiddische Zeitung lesen. Er stammte aus Piaski, der Stadt der Diebe. Eine Weile hatte er an einer Jeschiwa in Lublin gelernt. Wenn einer aus seiner Bande den Eltern schreiben oder einen Brief nach Brasilien schicken musste, kam er zu Jarmy, der den Brief auf Jiddisch und die Adresse auf Russisch abfasste. Jarmy kaufte sich die Zeitung jeden Morgen, las aber nur die Fortsetzungsromane »Die blutbesudelte Frau«, »Die betrogene Dame« und andere solche Geschichten. Oft las er Keila daraus vor oder beschrieb ihr, was inzwischen passiert