Madame Curie und die Kraft zu träumen
2
Iwanow
Warschau, Winter 1875
Tupcia erzählte, und zwanzig Mädchen hingen an ihren Lippen. Eigentlich hieß Tupcia Fräulein Tupalska, doch die Mädchen benutzten nur ihren Spitznamen, wenn sie über ihre Lehrerin sprachen. Tupcia erzählte auf Polnisch. Und sie erzählte von polnischen Königen, polnischen Heerführern, polnischen Siegen, polnischen Rebellen.
Mania schaute hinauf zu der kleinen dicklichen Frau mit dem breiten, etwas derben Gesicht, die vor der Klasse auf ihrem Katheder thronte. Jedes ihrer Worte sog sie in sich auf, denn Tupcias Geschichtsunterricht fand sie beinahe noch spannender als ihren Mathematikunterricht. Manchmal deutete die Lehrerin von ihrem Katheder herab auf eines der Mädchen und stellte eine Frage. Auf Polnisch. Und das angesprochene Mädchen stand auf und antwortete auf Polnisch.
Draußen vor den hohen Fenstern schneite der Schnee die Bäume, die Wege und die Wiesen des Sächsischen Gartens weiß, an den die kleine Warschauer Privatschule grenzte; hier drinnen lauschten etwa zwanzig Mädchen polnischer Geschichte. Konzentrierte Stille herrschte. Das Verbotene zu tun - Polnisch sprechen, noch dazu über polnische Geschichte - schweißte die Schülerinnen und ihre Lehrerin zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen.
Tupcia stieg von ihrem Katheder herunter, um den Namen eines polnischen Königs an die Tafel zu schreiben. Mania schaute in das Schneetreiben vor dem Fenster, und sofort stand ihr wieder das liebe Gesicht der Mutter vor Augen. Mutter - ihr erster Gedanke beim Aufstehen, ihr letzter vor dem Einschlafen.
Die Mutter war nicht zu Hause. Schon seit Monaten nicht. Sie erholte sich in einer Stadt namens Nizza von einer Krankheit, deren Namen noch keiner vor Manias Ohren ausgesprochen hatte. Sosehr sie auch grübeln mochte, die Krankheit ihrer Mutter blieb ihr ein Rätsel. Damit die Mutter nicht traurig wurde vor Einsamkeit, hatte der Vater entschieden, dass Manias große Schwester Sofia sie nach Frankreich begleitete.
Mania vermisste beide. Oft so sehr, dass es wehtat und sie weinen musste.
Von der fernen Mutter mit ihrer rätselhaften Krankheit flogen Manias Gedanken zur Mutter ihrer Freundin Kazia, die sie heute Morgen auf der Vortreppe des Schulportals beobachtet hatte - die hatte ihre Tochter zum Schulhaus begleitet und Kazia zum Abschied in den Arm genommen und geküsst.
Das zu beobachten, hatte Mania traurig gemacht. Weil ihre Mutter sie nicht zu Schule bringen konnte? Wahrscheinlich auch deswegen. Vor allem aber, weil ihre Mutter sie noch nie umarmt und geküsst hatte. Jedenfalls konnte sie sich an keine Umarmung und keinen Kuss der Mutter erinnern. Tante Lucia dagegen - die Schwester des Vaters, die oft im Haushalt aushalf -, ja, die küsste und umarmte Mania und die Geschwister.
Von ihrem Fensterplatz in der dritten Reihe aus lugte sie hinüber in die Mitte der vorderen Reihe, wo ihre Schwester Helena neben der geküssten Kazia saß. Ganz bestimmt hatte Hela die zärtliche Umarmung zwischen Mutter und Tochter auch beobachtet; sie waren ja zusammen zur Schule gekommen. Ob der Anblick sie genauso traurig gemacht hatte?
Wie alle Mädchen in der Klasse trugen Hela und Kazia straff geflochtene Zöpfe und die vorgeschriebene dunkelblaue Schuluniform mit den blanken, stählernen Knöpfen. Kazia und Hela waren ein Jahr älter als Mania, viele Mädchen der Klasse sogar zwei Jahre älter sie. Mania, die noch nicht ganz Achtjährige, war dennoch die Klassenbeste. In Mathematik, in Geschichte, in allem. Manchmal gefiel ihr das, öfter jedoch war es ihr peinlich, ja unangenehm, denn manche Mädchen der Klasse ärgerten sich darüber.
»Natürlich küsst uns die Mama!«, hatte Hela behauptet, als Mania sie danach gefragt hatte. »Was denkst du denn?! Die Mama ist nur ein bisschen krank.«
Beides stimmte nicht. Sie, Mania, war noch nie von der Mutter geküsst worden. Und die Mutter war auch nicht nur