Matildas letzter Walzer
PROLOG
Churinga. Das Seufzen des warmen Windes in den Pfefferbäumen schien den Namen zu wispern. Churinga. Ein Ort der Magie, der heiligen Mysterien, aus Gestrüpp und Buschwerk geschnitten von ihren Großeltern. Er hatte manches Herz und manches Rückgrat gebrochen, aber bis jetzt war Matilda bereit gewesen, den Preis zu zahlen. Denn er war alles, was sie je gekannt, was sie sich je gewünscht hatte.
Es schnürte ihr die Kehle zu, als sie über den Familienfriedhof hinaus in die Wildnis schaute. Sie durfte nicht weinen. So tief der Schmerz, so hart der Verlust auch sein mochte, die Erinnerung an ihre starke, scheinbar unbezwingbare Mutter verbot es. Aber in all ihren dreizehn Jahren hatte es nichts gegeben, was diesem Empfinden der Verlassenheit vergleichbar gewesen wäre, diesem Gefühl, dass die Kindheit vorüber war, dass es ihr bestimmt war, einen einsamen Pfad durch diesen großen, schönen, träumenden Ort zu beschreiten, der ihre Heimat war.
Der Horizont flimmerte; das leuchtende Ockergelb der Erde zerfloss im unfassbaren Blau des gewaltigen Himmels, und ringsum hörte sie die Geräusche, die sie von Geburt an kannte. Denn dieses weite, leer wirkende Land war lebendig und hatte eine eigene Stimme, und darin fand sie Trost. Das Rumoren der Schafe in den Pferchen, das Gezänk der Galahs und der Gelbhaubenkakadus, das ferne Gackern des Kookaburra und das leise Klirren des Zaumzeugs waren ihr so vertraut wie der eigene Pulsschlag. Selbst jetzt, im dunkelsten Augenblick ihres Lebens, ließ der Zauber von Churinga sie nicht im Stich.
»Willst du 'n paar Worte sagen, Merv?«
Die Stimme des Schafscherers durchbrach die Stille auf dem Friedhof und riss sie zurück in die Gegenwart und Wirklichkeit. Sie schaute zu ihrem Vater auf und wünschte sich, dass er sprechen, dass er irgendeine Regung zeigen möge.
»Mach du das lieber. Ich und Gott, wir sprechen sozusagen nicht miteinander.«
Mervyn Thomas war ein Riese von einem Mann, ein Fremder, der fünf Jahre zuvor aus Gallipoli zurückgekommen war. Von dem, was er dort gesehen hatte, waren ihm Narben an Leib und Seele geblieben. Er sprach nie darüber, höchstens nachts, wenn seine Träume ihn verrieten oder wenn der Alkohol seine Zunge und seine Beherrschung lockerte. Jetzt stand er ernst in staubigem Schwarz und stützte sich schwer auf den Gehstock, den er sich behelfsmäßig aus einem Ast zurechtgeschnitzt hatte. Sein Gesicht lag im Schatten unter der tief herabgezogenen Krempe, aber Matilda wusste, dass seine Augen blutunterlaufen waren und dass das Zittern seiner Hände nicht von der Trauer kam, sondern davon, dass er wieder etwas zu trinken brauchte.
»Ich tu's«, sagte sie leise in die verlegene Stille. Sie trat aus dem kleinen Kreis der Trauernden, das zerfledderte Gebetbuch fest in der Hand, und stellte sich vor den Haufen Erde, der nur zu bald den rauen Holzsarg ihrer Mutter bedecken würde. Zum Trauern war wenig Zeit gewesen. Am Ende war der Tod schnell gekommen, und wegen der Hitze war es unmöglich, auf Nachbarn und Freunde zu warten, die ein paar Hundert Meilen reisen mussten, um dabei zu sein.
Ihre Einsamkeit wuchs, als sie die Feindseligkeit ihres Vaters spürte. Um einen Augenblick Zeit zu gewinnen und ihren Mut zu sammeln, schaute sie in die Runde der vertrauten Gesichter, der Viehtreiber, Schafscherer und Hilfsarbeiter, die auf Churinga arbeiteten.
Die Aborigines drängten sich bei ihren Gunyahs, den Hütten, die sie am Bach gebaut hatten, und sahen neugierig aus der Ferne zu. Der Tod war für sie kein Grund zum Trauern, sondern nur die Rückkehr zu dem Staub, aus dem sie gekommen waren.
Schließlich wanderte ihr Blick zurück zu den schiefen Grabsteinen, in denen sich die Geschichte dieses winzigen Eckchens von New South Wales spiegelte. Sie drehte das Medaillon, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, in den Fingern, und als sie ihren Mut wiedergefunden hatte, wandte sie sich den Trauernden zu.
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