Porzellanhimmel
3.
Wieder stand Sophie vor einem Wendepunkt in ihrem Leben. Der Abschied von Vertrautem und Liebgewonnenem fiel ihr schwer. Soeben hatte sie von einer Kollegin erfahren, dass die Landschaftsgärtnerei Heuermann vor dem Aus stand. Für die passionierten Gärtner Frida und Günter waren Finanzen stets nur unangenehme Nebensächlichkeiten gewesen. Aber Frida hatte zumindest das Notwendigste halbwegs fristgerecht erledigt. Nun war es Sophie, als risse ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Sie hatte sich bei Frida und Günter geborgen gefühlt, wie ein Familienmitglied. Auch hatten beide ihre Leistungen immer anerkannt.
Sie musste jetzt mit jemandem reden, der sie verstand, und wählte Dorits Nummer im Kinderdorf.
Es dauerte nicht lange, bis ihre Pflegemutter sich am anderen Ende meldete.
"Hallo, Ma Dorit", begrüßte Sophie sie. Alle Pflegekinder im Dorf nannten Dorit so. Eine magere, drahtige Frau mit Silberfäden im aschblonden Haar. Dorit, die immer einen humorvollen Spruch auf den Lippen hatte, musste man einfach gernhaben. Unermüdlich sorgte sie für alle Pflegekinder, hatte stets ein offenes Ohr für Kümmernisse und Probleme und immer einen Rat.
"Sophie, mein Liebes, das ist aber schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir denn?"
In wenigen Sätzen schilderte sie der Pflegemutter ihre Befürchtungen, den Job zu verlieren aufgrund der desolaten finanziellen Lage der Gärtnerei.
"Was hast du vor?", fragte Dorit.
"Bewerbungen schreiben."
"Dann natürlich im Berliner Umland, scherzte Dorit. Ich würde mich freuen, dich öfter zu sehen."
Das weckte Sophies schlechtes Gewissen. Ihr letzter Besuch bei der Pflegemutter lag fast zwei Jahre zurück.
"Ja, du hast recht, ich sollte mich auch rund um Berlin bewerben." Manchmal vermisste Sophie ihre Pflegemutter und die alten Freunde sehr, aber weniger die Großstadt mit ihrem hektischen Treiben.
"Und wie geht es dir sonst so?", fragte Dorit. Sophie berichtete ihr von ihrer Enttäuschung über die Antwort des zuständigen Jugendamtes.
"Sie geben mir nicht den kleinsten Hinweis! Aber ich habe ein Anrecht darauf zu erfahren, wer meine Eltern sind und woher ich komme! Und jetzt fang nicht wieder davon an, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich kann es nicht." Ohne ihre Herkunft zu kennen, fühlte sie sich wie Treibholz, das irgendwo strandete. Es musste doch herauszufinden sein. Einzig Dorit war noch mit ihrer Vergangenheit in Berührung gekommen, an dem Tag, an dem sie Sophie vor der Eingangstür zum Kinderdorf gefunden hatte. Vielleicht hatte ihre Pflegemutter doch jemanden gesehen oder bemerkt.
"Ma, auch wenn es dich nervt, aber ist dir denn damals wirklich nie jemand aufgefallen? Ein paar Tage vorher oder später?"
Dorit seufzte. "Das liegt doch über zwanzig Jahre zurück. Wie soll ich mich da an jedes Detail erinnern? Das Wichtigste habe ich dir gesagt."
"Und in der Tasche, in der ich lag, war da kein Zettel oder Ähnliches? Gibt es etwas, das du mir verschweigst?"
"Nein ... nein. Wie kommst du darauf? Meinst du, wir hätten nicht alles durchsucht?"
Doch Sophie entging nicht, dass ihre Pflegemutter bei der Antwort gezögert hatte. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Dorit etwas verschwieg. Wenn sie sich doch selbst nur erinnern könnte. Sophie wollte ihre Pflegemutter nicht weiter mit Fragen verärgern. Vor ein paar Jahren waren sie wegen des Themas arg aneinandergeraten. Tagelang hatte sie unter der bedrückenden Stimmung gelitten, die die innige Beziehung zu Dorit belastet hatte. Schwieg ihre Pflegemutter aus Fürsorge und Schutz?
Sie plauderten noch eine Weile über den Gartenbaubetrieb, bis Dorit sich verabschiedete, weil sie ein neues Pflegekind erwartete.
Das Leben ist wie ein Buch, jeder Lebensabschnitt ein Kapitel , hatte sie irgendwo gelesen. Dann besaß ihr Buch sehr viele kurze Kapitel. Aber Sophie war eine Kämpferin. Niemals die Hoffnung verlieren