Sascha
Die Blechschlange wälzte sich über den Asphalt. Hinter den Windschutzscheiben der kleinen Autos sah man angespannte, aber auch von Tränen nasse Gesichter. Diese Entwicklung war eigentlich zu schön, um wahr zu sein, aber noch hatte man die Grenze nicht erreicht. Was, wenn doch noch etwas schief ging, jetzt, wo die ersehnte Freiheit fast greifbar erschien? Die Angst fuhr mit, als die Trabbis und Wartburgs sich langsam zum Tor in den goldenen Westen, zur Grenze, durchdrängelten. Auch wenn die Zukunft unsicher war, jeder glaubte fest daran, dass es nur besser werden konnte.
Irgendwo in diesem Chaos saß auch die Familie Dombrowsky in ihrem Trabbi. Wie die anderen hatte sie allein für die Hoffnung, dass die Zukunft leichter zu ertragen sein würde, alles hinter sich gelassen. Sie nutzten die Möglichkeit, aus diesem Teil Deutschlands auszubrechen, das sie wie ein Gefängnis für Leib und Seele empfunden hatten.
Überstürzt wurde ein Teil der Habe eingepackt, vieles musste zurückbleiben. Aber was bedeutete das jetzt noch? Hier im Westen Deutschlands, wo jeder für die Erträge seiner Arbeit kaufen konnte, was er haben wollte, würde es kein Problem werden, neu anzufangen. Der Einsatz dafür war harte Arbeit und arbeiten, das konnten sie. Auf diese Weise mussten die Träume einfach erfüllt werden, sie würden neue Freunde suchen, brauchten nie wieder Angst vor Spitzeln im eigenen Wohnzimmer zu haben. Die Zeichen der Zeit sprachen dagegen, lange nachzudenken.
Nun hatte auch der kleine, dunkelrote Trabbi den Grenzbaum erreicht, sie sahen in freundliche Gesichter, die Fernsehkameras surrten. Manfred Dombrowsky wurde am Fenster des Wagens gefragt, wie er sich denn fühle und als er antwortete, spürte er einen riesigen Kloß im Hals. Mit feuchten Augen bestätigte er erwartungsgemäß, glücklich zu sein und seine Frau Angelika nickte dazu. Sie rechneten damit, die erste Durststrecke schon bald zu überwinden, Manfred war Schreiner und die Familie würde der Allgemeinheit nicht lange zur Last fallen. Er verstand etwas von seinem Beruf, das konnte die Fahrkarte zu einem besseren Leben werden. So hofften sie wenigstens. Der Wagen wurde durchgewinkt, im Taumel der neu erworbenen Freiheit mitten hinein in die Brandung von Menschen. Hinter ihnen blieben die Scherben dessen zurück, was ihnen alle Selbständigkeit genommen und ihnen die Willkür aufgezwungen hatte. Noch wussten sie nichts von den Schattenseiten und harten Bandagen, den neuen und unbekannten Regeln, die ihnen der Westen als Gegenleistung für die ersehnte Individualität diktieren würde. Nur der Glanz war wichtig, die vordergründigen Verlockungen des Konsums ließen alle Zweifel zerplatzen wie Seifenblasen.
Manfred parkte wie alle auf dem großen Parkplatz - geschafft. Eingeschlossen von vielen anderen Kleinwagen stiegen die Dombrowskys aus. Sie redeten mit Fremden, als seien sie alle nur eine einzige, große Familie. Sie kratzten die DDR - Plaketten wie ein letztes, entwürdigendes Brandmal ihres bisherigen Lebens ab. Manfred und Angelika fanden schnell Kontakt. Es wurde politisiert und polemisiert, jeder hatte viel zu sagen. Aber in einem waren sich alle einig - es würde nun aufwärts gehen, endlich auch einmal für sie.
Tochter Inge und Sohn Alexander Dombrowsky sahen diese Entwicklung etwas anders. Sie waren nicht der Meinung ihrer Eltern, wollten nicht hierher. Sie fühlten sich übergangen und zugunsten einer ungewissen Zukunft aus dem Kreis ihrer Freunde gerissen.
Alexander, von allen nur Sascha genannt, wurde erst vor ein paar Tagen zwölf. Er verhielt sich seit der Abreise widerspenstig, ging bei jeder Gelegenheit in Opposition. Inge, knappe sechzehn, hatte sich halbwegs abgefunden. Sie würde jedoch, da war sie sicher, mit achtzehn nach Chemnitz zurückgehen - der Stadt, in der sie sich gerade das erste Mal verliebt hatte.
Ein Hotel inmitten von Berlin war die erste Station der Familie. Sie hatten es mit einiger Mühe erst gegen A