Schicksalhafte Zeiten
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BERLIN, JULI 1942
Luise legte das Baby auf die Waage und schob die Gewichte von links nach rechts. Ihr Blick fiel auf die Wiegekarte, und ihre Miene wurde ernst.
»Ihre Tochter hat abgenommen, Frau Walbach«, sagte sie zu der neben ihr stehenden Mutter, einer blonden Frau Mitte zwanzig. »Das ist gar nicht gut.«
»Sie will eben nicht anständig trinken«, rechtfertigte sich Frau Walbach. »Immer wenn ich sie anlege, nuckelt sie nur ein wenig und hört dann auf. In meinem Erziehungsratgeber steht, dass das Stillen nicht länger als zwanzig Minuten dauern darf. Ich lass sie ja auch schreien, bis sie wohl richtig Hunger hat. Aber immer ist es dasselbe.«
Luise schmerzten die Ausführungen der Frau. Sie schreien zu lassen, war in ihren Augen kein Weg, mit Säuglingen umzugehen. Die kleine Margarete auf der Waage war zwei Monate alt. Margot hatte sie bei einer Hausgeburt auf die Welt geholt. Immerhin etwas. Margot verabscheute die neuerdings häufig angewandte Praxis, die Kinder nach der Geburt aus dem Raum zu bringen und sie erst am nächsten Tag ihren Müttern zum Stillen zu reichen, ebenso wie Luise. Bei Hausgeburten war es möglich, sie zu umgehen, in der Klinik wurde diese Regelung inzwischen von vielen Hebammen eingehalten. Deshalb war es Luise zur Gewohnheit geworden, öfter in das Säuglingszimmer zu gehen, um nach den Kleinen zu sehen, das eine oder andere Baby im Arm zu halten, mit ihm zu reden und es zu streicheln. Ein Neugeborenes brauchte in ihren Augen Zuwendung, Hautkontakt, keine Regeln oder festen Zeitpläne. Luise wusste, dass Ermahnungen ihrerseits gegenüber Frau Walbach nichts bringen würden. Trotzdem wagte sie einen Versuch.
»Manche Babys haben es gern, wenn sie etwas auf dem Arm gehalten werden«, sagte sie. »Das Stillen ist ein recht vertraulicher Vorgang zwischen Mutter und Kind. Vielleicht hilft es, sie dabei zu streicheln, ihr in die Augen zu sehen und sie mit liebevollen Worten zu ermuntern.«
»Aber dann verzärtle ich sie ja«, sagte die Frau. Entrüstung lag in ihrer Stimme. »Am Ende tanzt mir das Balg dann auf der Nase herum. Sie sind ja eine feine Hebamme, wenn Sie einen solchen Unsinn empfehlen.«
Luise schluckt ihre aufsteigende Wut und die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter. Wieder einmal verfluchte sie die Ärztin Johanna Haarer, die den abscheulichen Erziehungsratgeber geschrieben hatte, an den sich Hedwig Walbach und so viele andere Frauen in Erziehungsdingen seit einigen Jahren hielten. Margot hatte es auf den Punkt gebracht, indem sie neulich dieses Werk als »die Pest« bezeichnet hatte.
»Also diesen Angriff auf Fräulein Mertens verbitte ich mir«, mischte sich plötzlich eine andere Frau in das Gespräch ein. Es war Bärbel Grabewitz, jedes einzelne ihrer Kinder hatte Luise auf die Welt geholt.
»Sie ist eine hervorragende und erfahrene Hebamme, die jedes meiner acht Kinder auf diese Welt geholt und mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Ohne sie hätte ich oftmals nicht gewusst, wie es weitergehen soll.«
»Ach wirklich«, sagte Frau Walbach. »Acht Kinder. Respekt. Dann tragen Sie ja bereits das goldene Mutterkreuz.«
»Sehr wohl trage ich das«, erwiderte Frau Grabewitz. »Bei meinen letzten beiden Kindern ist der Führer sogar Pate.« Stolz schwang in ihrer Stimme mit. »Hören Sie mal lieber auf das Fräulein Mertens. Und glauben Sie nicht alles, was in diesen Ratgebern steht. Mein Peterchen, mein Erstgeborener, hat auch länger gebraucht, um sich an die Brust zu gewöhnen. Manchmal hab ich mit ihm zwei Stunden auf dem Sofa gesessen. Und dann plötzlich trank er ganz flott. Und heute ist er schon vierzehn Jahre alt und Mitglied der Hitlerjugend. Seine Uniform ist immer fein gebügelt. Wir wollen dem Führer schließlich Ehre machen.«
»Oh, das wollen wir auch«, sagte Frau Walbach. »Ich arbeite in einer der Rüstungsfabriken als Sekretärin, die Kleine kann ich währenddessen in einer Heimstätte unterb