Sehnsucht nach den Highlands
2
April war allein.
Sie ging zurück ins Haus. Die lautlose Stille erschien ihr mit einem Mal fremd. Angesichts der folgenden Tage, die sie auf sich gestellt in dem Haus verbringen würde, ergriff sie plötzlich ein flüchtiges und bislang ungewohntes Gefühl der Einsamkeit. Dabei hatte sie sich eben doch noch auf das Ungestörtsein gefreut. Obgleich achtundzwanzig Jahre alt, hatte sie lediglich während ihrer Zeit in London allein gelebt. Ein Jahr hatte sie es bei ihrer Tante Isobell ausgehalten, wohin die Flucht vor Nigel sie geführt hatte. Alle in der Familie waren sich einig gewesen, dass diese Auszeit nötig war, so sehr, wie April unter Nigels Untreue gelitten hatte. Ein Jahr hatte sie in Londoner Hotels als Zimmermädchen gearbeitet, bis sie diesen Job aufgegeben hatte. Sie war keine Freundin der Großstadt. Kirkwall reichte ihr völlig.
Nun also zwei Wochen ohne Fiona. Diese Tage würden ihr guttun. Sie würde Muße haben, sich in ihr neues Betätigungsfeld einzuarbeiten, denn die Wolle der Genossenschaft würde schon in den nächsten Tagen geliefert werden. Und nicht nur das, sie würde vielleicht sogar Muße zur inneren Einkehr finden. Ein ungewohnter Zustand, den es auszuprobieren galt.
Im letzten halben Jahr war ihr erst langsam, dann immer deutlicher klar geworden, dass sie einige Dinge in ihrem Leben entscheidend ändern musste. Dieser Gedanke war fremd und beunruhigend, doch empfand sie gleichzeitig eine nie gekannte Lust auf das Leben. Es war gerade so, als ob sich die kraftvollen Energien, die in ihr steckten, erst nach dem Tod der Eltern ihre Bahn nach außen gesucht hätten.
Seit sie in London gearbeitet hatte, war ihr klar geworden, dass sie das geruhsame Leben auf den Orkneys bevorzugte. Sie liebte die Orkneys, ebenso wie Fiona, aber hier Arbeit zu finden, die einen ernährte und sogar noch Spaß machte, war nie einfach gewesen. Ihre Schnoddrigkeit war größtenteils gespielt. Tatsächlich hatte ihr berufliches Desaster sie in den vergangenen Jahren bei Weitem nicht so kalt gelassen, wie es für Außenstehende den Anschein hatte, und sie manch schlaflose Nacht gekostet.
Hatte ihre Familie eigentlich je erkannt, wie verschlossen sie wirklich war? Ihr Vater vielleicht. Auf den Grund ihrer Seele hatte sie bisher kaum jemanden blicken lassen, nicht einmal Sandy, ihre zweite enge Freundin neben June.
Dies alles sollte nun ein Ende haben. Auch wenn es ihr niemand zuzutrauen schien: In ihr schlummerte mehr, als sie bisher ausgelebt hatte, davon war sie fest überzeugt. Die Dinge hatten an Klarheit gewonnen, und diesmal verfügte sie über ausreichenden Mut und Entschlossenheit, ihre Ideen auch in die Tat umzusetzen. Sie strömte geradezu über vor Kreativität. Und dieses Potenzial würde sie jetzt nutzen.
Beinahe euphorisch setzte sie sich an den Schreibtisch in ihrem Zimmer, um den erneuten Versuch zu unternehmen, eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen und sich mit den umfangreichen Steuergesetzen zu befassen.
Anderthalb Stunden später schaltete sie genervt den Computer aus. Es war ein hartes Stück Arbeit. Sie hatte das Gefühl, in dem Wust von Zahlen und Paragrafen zu ertrinken, die über ihr zusammenzuschlagen schienen wie ein Tsunami. Sie ahnte bereits, dass sie möglicherweise einen Partner suchen musste, der ihr bei der geschäftlichen Seite ihres Projekts helfen konnte.
Sie seufzte und stand auf. Jetzt war sie erst einmal reif für ein entspannendes Bad und eine Maniküre.
Später ging sie, eingehüllt in ihren vergilbten Bademantel, ins Wohnzimmer. Sie hatte sich eingecremt und eines von Fionas Parfums benutzt. Schade, dass niemand da war, der an ihr schnupperte und sie dann liebevoll in den Arm zog, durchzuckte es sie.
Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster und wich sogleich erschrocken zurück, als ein gewaltiger Blitz den Himmel in gespenstisch blaues Licht tauchte, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag. Normalerweise schreckten si