Unsere glücklichen Tage
Ich wusste eigentlich gar nicht mehr genau, warum ich mich auf das Treffen eingelassen hatte. So viele Jahre waren vergangen. Was hätten wir uns noch zu sagen? Mit vielen Menschen wurde es irgendwann mühsam. Und auf mühsam hatte ich in meinem Alter überhaupt keine Lust mehr.
Früher war es nie mühsam gewesen. Alles war immer leicht gewesen. Und es gab eine Freiheit. Eine Freiheit, die wir vielleicht nur in jungen Jahren haben. Wir hatten damals das Gefühl, es würde ewig so weitergehen.
Warum hatten wir uns überhaupt aus den Augen verloren?
Ich wusste es nicht mehr.
Und gleichzeitig wusste ich es genau.
Ich glaube, das ging uns allen so.
Jede von uns wusste es, jede auf ihre Weise.
Auch Lenica. Vor allem Lenica.
Aber Lenica war tot.
Irgendwann hatte ich eine Todesanzeige bekommen.
Ich las ihren Namen und die Namen der Trauernden, und mich überkam eine unbeschreibliche Traurigkeit.
Ich hatte so lange nichts von ihr gehört. Und hatte mich auch nicht von mir aus gemeldet. Doch ich habe immer an sie gedacht. An sie und Marie und Fanny.
An dem Abend damals trank ich viel zu viel Rotwein und hörte Musik. Aber auch die traurigste Musik war nicht traurig genug. Ich musste weinen, und ich war mir plötzlich gar nicht sicher, ob ich um Lenica weinte oder um mich selbst. Ich bin ein sentimentaler Mensch, das bin ich schon immer gewesen. Vielleicht trauerte ich um unsere Vergangenheit und unsere verlorene Jugend. Die nie wiederkommen würde. Und von der ich so sehr hoffte, dass wir sie ganz ausgeschöpft hatten.
Marie hatte keine Anzeige bekommen, sagte sie. Sie hatte es von irgendwem gehört. Sie und Lenica hatten auch keinen Kontakt mehr gehabt. Sie und Fanny auch nicht. Ich versuchte mich zu erinnern, ob Lenica geschieden war, da fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, ob sie überhaupt geheiratet hatten. Marie wusste noch weniger als ich. Das sagte sie mir jedenfalls, als wir uns auf der Straße in die Arme liefen.
Wir waren uns tatsächlich zufällig begegnet. An einem noch kühlen, aber sonnigen Junitag in Luxemburg. Ich saß auf dem Hauptplatz, im einst legendären Café de Paris. Ich hatte den Ort unserer gemeinsamen Schulzeit nur besucht, um einen neuen Pass zu beantragen, eigentlich zog mich nichts mehr hierher. Ich hatte etwas Zeit, aß Steak frites mit Sauce Béarnaise und trank zwei Gläser Wein, im Andenken an den früheren Besitzer des Cafés, der damals ein Freund gewesen war. Ich hatte gerade gezahlt, nahm meine Sonnenbrille, stand auf - und schon fiel sie mir in die Arme.
Marie sah gut aus, sie hatte sich fast gar nicht verändert. Die blonden Haare waren perfekt gesträhnt und etwas kürzer als früher, aber genauso wild, sie war so dünn wie immer und wahnsinnig gut gelaunt. Voller Energie. Sie quatschte mich voll und sagte, sie sei beruflich hier, auf einem Kongress, und ob wir heute Abend zusammen was trinken gehen. Ich wollte noch fragen, auf was für einem Kongress, aber sie war furchtbar in Eile und wir tauschten Nummern aus und schon wehte sie weiter und rief noch: »Elsa, bist du eigentlich noch mit Soundso zusammen?«, der Name meines Exmannes, und ich rief: »Nein.« Sie lachte ihr Ich-habs-dir-ja-gleich-gesagt-Lachen. Dabei kannte sie ihn gar nicht. Oder doch? Ich erinnerte mich nicht.
So war es mit Marie: Nichts war tragisch für sie. Traurig vielleicht, aber nicht tragisch. Sie war das, was man entwaffnend nannte.
Später schrieb Marie: »Ich sitze allein im Fernsehzimmer meiner Eltern und denke an die alten Zeiten. P.S. Sie haben doch tatsächlich mein Zimmer zum Fernsehzimmer gemacht!«
Ich erinnerte mich an Maries Zimmer. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie da saß, und auch, wie sie dabei aussah.
Vielleicht war es das, was mich dazu brachte, ich weiß es nicht, jedenfalls schrieb ich ihr zurück: »Ja, lass uns treffen, bevor wir alt und schrumpelig werden.«
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