Wie die Ruhe vor dem Sturm
1
ELEANOR
21. Juni 2003
Alles, was ich über das Leben wusste, hatte ich von Harry Potter gelernt.
Ich nannte ihn den besten Lehrer in allen Lebenslagen und schwor, dass er mir schon unzählige Male das Leben gerettet hatte. Jedes Mal, wenn mich etwas belastete, schrieb ich Zaubersprüche, um Menschen in Ratten, Schnecken oder Kröten zu verwandeln.
Man muss wohl kaum erwähnen, dass meine sozialen Kompetenzen dürftig waren. Aber das war nicht schlimm, denn ich war wirklich gut darin, andere Menschen zu meiden - jedenfalls so lange, bis ich gezwungen war, mit ihnen zu interagieren.
"Du hast Raus-aus-deinem-Zimmer-Arrest." Mom stand im Türrahmen und rieb sich mit den Handballen über das Gesicht. Ihre braunen Haare waren zu einem unordentlichen Knoten hochgebunden, und die Malerschürze, die sie sich um die Taille geschlungen hatte, verbarg ihr pinkfarbenes Pink-Floyd-T-Shirt. Ihre neongrünen Chucks waren voller Farbe, und das dicke pinkfarbene Gestell ihrer Brille saß oben auf ihrem Kopf, als sie mir ein strahlendes Lächeln schenkte.
Sie hatte den ganzen Tag in der Garage gemalt, denn an den Wochenenden konnte sie sich ganz ihrer Liebe zur Kunst widmen. In der Woche war sie die immer freundliche Nanny, die die Kinder vor einem Leben in Langeweile bewahrte. Aber an den Wochenenden konnte sie sie selbst sein.
Ihre Krebsdiagnose war zwei Monate her, und ich liebte es, wenn sie malte. Solange sie malte, hatte ich das Gefühl, alles sei gut. Solange sie noch sie selbst war, war jeder Tag leichter.
Und an den meisten Tagen war sie sie selbst. Manchmal war sie müde, aber sie war noch immer Mom. Sie legte sich nur häufiger hin, um sich auszuruhen.
Ich verengte die Augen und blickte von meinem Buch auf. "Du kannst niemandem Raus-aus-deinem-Zimmer-Arrest geben."
"Doch, das kann ich. Dein Vater und ich haben darüber gesprochen, und wir verbieten dir, dich in diesen vier Wänden aufzuhalten. Du hast Sommerferien! Du solltest dich mit deinen Freunden treffen."
Mein Blick wanderte von ihr zu meinem Buch und wieder zurück. "Was genau denkst du tue ich gerade?" Ich liebte meine Mutter. Sie war die beste Mutter der Welt, aber an diesem Nachmittag war sie wirklich rücksichtslos. Es war schließlich nicht irgendein Sommertag. Heute war der 21. Juni 2003, der Tag, auf den ich seit drei Jahren wartete.
Drei. Lange. Schmerzvolle. Jahre.
Und sie benahm sich tatsächlich, als wüsste sie nicht, dass heute Harry Potter und der Orden des Phönix in die Buchläden gekommen war. Der Umstand, dass sie überhaupt die Nerven hatte, über irgendetwas anderes als über Harry, Ron und Hermione zu sprechen, war unfassbar.
"Eleanor, es sind Sommerferien, und du hast noch kein einziges Mal dein Zimmer verlassen."
"Aber nur, weil ich die ersten vier Harry-Potter -Bände nochmal lesen musste, um mich auf das hier vorzubereiten." Das hätte sie aber auch wirklich verstehen können. Es war in etwa so, als hätte Grandma meine Mom früher, wenn ein neues Black-Sabbath-Album rausgekommen war, Milch kaufen geschickt, statt sie Musik hören zu lassen.
Total uncool.
Black Sabbath Milch.
Harry Potter Sozialleben.
"Shay sagt, heute Abend steigt eine Party", erklärte Mom und setzte sich auf mein Bett. "Es gibt bestimmt Gras und Alkohol", witzelte sie und stieß mich mit dem Ellbogen an.
"Toll", spöttelte ich. "Wie könnte ich mir das entgehen lassen?"
"Okay, ich weiß ja, dass du nicht so ein Partylöwe bist, wie ich es früher mal war, aber ich finde, jede Sechzehnjährige sollte wenigstens einmal im Leben auf einer richtigen Teenager-Party ohne Erwachsene gewesen sein."
"Wieso sollte ich das wollen? Wieso solltest du wollen, dass ich da hingehe?"
"Weil wir seit Anfang der Sommerferien keinen Sex mehr hatten", mischte Dad sich trocken i