Winter
Guten Morgen, sagte Sophia Cleves. Schönen Heiligabend.
Sie sagte es zu dem körperlosen Kopf.
Es war der Kopf eines Kindes, bloß ein Kopf ohne einen Körper dran, der selbständig in der Luft schwebte.
Ausdauer hatte er, der Kopf. Es war sein vierter Tag in Sophias Haus; sie hatte am Morgen die Augen aufgeschlagen, und er war immer noch da, schwebte dieses Mal über dem Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel. Er fuhr herum, als sie ihn ansprach, und machte, als er sie erblickte - kann man das von etwas, das keinen Hals und keine Schultern hatte, sagen? -, eine Verbeugung, eindeutig, kippte leicht vornüber, senkte dabei respektvoll die Augen und hob sie wieder, formvollendet und munter: Verbeugung oder Knicks? War der Kopf männlich oder weiblich? Wohlerzogen war er auf jeden Fall, höflich, der Kopf eines braven Kindes (noch im vorsprachlichen Alter vielleicht, denn ziemlich still) von der Größe einer Cantaloupe (war es paradox oder ein Mangel, dass sie mit Melonen besser klarkam als mit Kindern?, zum Glück hatte Arthur, als er noch klein war, schnell gemerkt, dass es ihr lieber war, wenn Kinder sich weniger kindisch aufführten), einer Melone allerdings sehr unähnlich insofern, als er ein Gesicht hatte und einen Schopf vollen Haars, einige Zentimeter länger als er selbst, dicht, dunkel, leicht gewellt, fast romantisch wie ein Ritter im Miniaturformat, falls er männlich war, oder, falls weiblich, wie das laubgeschmückte Kind in dem Park in Paris auf der alten Schwarz-Weiß-Postkarte nach einer Aufnahme des französischen Fotografen Édouard Boubat, auf der es der Kamera den Rücken zukehrt (petite fille aux feuilles mortes jardin du Luxembourg Paris 1946), und als Sophia heute Morgen die Augen aufschlug und ihn dort sah, den Kopf mit dem Hinterkopf in ihre Richtung gekehrt, hob und senkte sich das Haar gerade verführerisch im Luftzug der Zentralheizung, aber nur leicht und nur auf einer Seite, direkt oberhalb des Heizkörpers; nun schwang und wehte es um den Bruchteil einer Sekunde verzögert mit dem Wiegen und Schaukeln des sich verneigenden freischwebenden Kopfes mit wie das Haar einer mit Weichzeichner gefilmten Person in einer Shampoowerbung in Zeitlupe. Siehst du? Shampoowerbung ist weder gespenstisch noch morbide. Nichts, wovor man sich fürchten müsste.
(Es sei denn, Shampoowerbung oder vielleicht sogar Werbespots generell sind genau genommen schreckliche Visionen von lebenden Toten, und wir sind bloß schon so daran gewöhnt, dass sie uns nicht mehr schockieren.)
Jedenfalls war er einfach nicht beängstigend, der Kopf. Er war niedlich und verschämt in seiner Feierlichkeit, und das sind keine Wörter, die man mit etwas Totem oder mit dem Gedanken an ein marodierendes Gespenst von etwas Totem verbindet - und er wirkte ja auch keineswegs tot, obwohl es so aussah, als wäre er weiter unten, an der Stelle, wo einmal ein Hals gewesen sein mochte, einen Tick grausiger, als wäre da, nur eben so erkennbar, ein Hauch von etwas Viszeralem, Zerfetztem, Fleischigem.
Aber alles über diesen Hauch Hinausgehende war gut hinter Haar und Kinn versteckt, sprang einem nicht sofort ins Auge, denn was ins Auge sprang, war die Lebendigkeit des Kopfes, das Anheimelnde seines Betragens, und so, wie er fröhlich in der Luft neben ihr schaukelte, eine kleine grüne Boje in ungetrübter See, während Sophia sich das Gesicht wusch und die Zähne putzte, und wie er Sophia voraus lässig die Treppe hinabschwebte und sich, ein kleiner Planet in einem eigenen Mikrouniversum, zwischen den eingestaubten Trieben der Kollektion toter Orchideen auf dem unteren Treppenabsatz hindurchwand, strahlte er mehr Gutartigkeit aus als jeder andere Kopf, den sie bisher gesehen hatte, ob Buddha, x-beliebiger Amor auf einem Gemälde oder blöde glotzender Weihnachtsengel.
In der Küche füllte Sophia Wasser und Kaffee in die Espressomaschine, schraubte das Oberteil fest und zündete das