Winterzauber im Central Park
KAPITEL
EINS
Marktplatz in Appleshaw, Wiltshire, England
Es regnete heftig, und die Temperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt. Die Scheibenwischer von Lara Weeks' Sattelschlepper schafften es kaum, gegen das typisch britische Winterwetter anzukämpfen. Eine Meile. Sie mussten nur noch eine Meile zurücklegen, bevor sie den Marktplatz von Appleshaw erreichen würden, ihres Heimatdorfs, in dem jedes zweite Haus mit Stroh gedeckt war. Dann konnte das Fest beginnen.
Lara schaltete die Windschutzscheibenheizung höher, drehte die Musik lauter - Taylor Swift sang über Bluetooth ihre Version von "Last Christmas" - und konzentrierte sich auf die Straße, während ihr Atem im Fahrerhaus Wölkchen in der eisigen Luft bildete. Sie waren mit beiden LKWs der Weeks unterwegs: Einen fuhr sie, und den anderen lenkte Aldo, ihr Beinahe-Bruder. Er war vor ihr und beförderte einen riesigen Nadelbaum, geschmückt mit Girlanden und glitzernden goldfarbenen, roten, grünen und ein wenig ungewöhnlichen violetten Lämpchen, den Mrs Fitch zu einem günstigen Preis im Gartencenter gekauft hatte. Unter dem Baum saßen alle Darsteller des Krippenspiels: Maria, Joseph, zwei Schafe - die mit jeder Minute feuchter wurden -, Milo, die Hausziege des praktischen Arztes im Ort, ein Schäfer und die Heiligen Drei Könige. Die Weisen aus dem Morgenland waren Mrs Fitchs Enkel - dreizehnjährige Drillinge, die in ihren Kostümen aus Goldlamé keinen sehr glücklichen Eindruck machten.
Das war Aldos großer Abend. Der Achtzehnjährige hatte fast sein ganzes Leben darauf gewartet, an der jährlichen Parade am ersten Dezember einen LKW von Weeks zu fahren, und jetzt war es endlich so weit. Ein paar Monate zuvor hatte er seinen LKW-Führerschein bestanden, und Lara war diejenige gewesen, die ihm alles beigebracht hatte. Außer vielleicht, was zu tun war, wenn man das Jesuskind in der Krippe transportierte, und es zu hageln begann ... Warum schneite es nicht stattdessen? So, wie es sich im Dezember gehörte? Ein leichter Zuckerguss auf dem malerischen Appleshaw würde den Ort eher wie einen festlichen Weihnachtskuchen aussehen lassen als wie eine einfache Pralinenschachtel.
"Fahr langsam, Aldo. Runter vom Gas. Nur keine Eile", sagte Lara zu sich selbst und drehte Taylor Swift wieder leiser. Sie warf einen Blick auf das Funkgerät am Armaturenbrett. Niemand in ihrem Bekanntenkreis benutzte noch CD-Funk - außer dem Fuhrunternehmen ihres Vaters Gerry. Ihr Dad hatte zwar nach einer wirtschaftlich guten Phase zwei brandneue LKWs gekauft - Lara hatte ihren Truck Tina getauft -, aber darauf bestanden, die alten Funkgeräte zu behalten. "Das ist Tradition", hatte er erklärt, also befanden sich in den Wagen immer noch Geräte, die aussahen, als gehörten sie in ein Museum, neben USB-Anschlüssen und eingebauten Navigationssystemen. Lara nahm das Walkie-Talkie aus der Station und hielt es sich an den Mund.
"Aldo, hörst du mich? Over."
Sie legte das Handfunkgerät auf ihren Schoß, um das Lenkrad wieder mit beiden Händen greifen zu können. Die Sicht wurde immer schlechter. Sie konnte sich an keine Parade erinnern, bei der das Wetter so grauenhaft gewesen war. Vielleicht waren gar keine Zuschauer auf der Straße ...
"Lara? Bist du das?"
Lara schüttelte den Kopf, als sie Aldos überraschte Stimme hörte. Außer dem Fahren eines Trucks hatte sie ihm auch beigebracht, wie man über CB funkte. Aldo hatte leider ein Problem damit, sich manche Dinge zu merken, außer wenn es um LKWs ging - sie waren seine große Leidenschaft. Ebenso wie Football und Marvel-Comics. Und seit einiger Zeit auch Kampfsport. Falls diese Besessenheit anhalten sollte, würde sie ihm dazu raten müssen, seine immer weiter wachsende Bruce-Lee-Sammlung einzuschränken und sich vielleicht nur auf Kung-Fu-Filme wie Karate Kid zu konzentrieren ...
"Ja, ich bin's, Aldo.