Das Pferd ist dein Spiegel
P
ferde weisen von Natur aus eine große Veranlagung zu Angst und Nervosität auf. Kein Wunder, wenn man sich ihre Entwicklungsgeschichte anschaut: Als harmlose Pflanzenfresser dienten sie anderen Tieren als Nahrung. Der Herdenverband stellte einen wichtigen Garant für ihre Sicherheit dar. Dieses Erbe kann auch unser "neuzeitliches" Pferd nicht leugnen. Es wird mit einer tief verwurzelten Wachsamkeit geboren. Außerdem besitzt es eine instinktive Furcht vor allem, was sich bewegt oder wie ein typisches Raubtier aussieht. Schließlich hängt sein Überleben davon ab, einen potenziellen Fressfeind frühzeitig zu erkennen und sein Heil in der Flucht zu suchen. Sein Überlebensinstinkt ist so stark ausgeprägt, dass es seine Umwelt unablässig beobachtet.
Alles Unbekannte und Ungewöhnliche stellt für das Fluchttier Pferd eine mögliche Bedrohung dar. Das kann eine umherfliegende Plastiktüte, ein Müllcontainer oder ein Kanaldeckel sein. Ein harmloser Wasserschlauch wird zu einer gefährlichen Schlange, ein ganz normaler Regenschirm entpuppt sich als angriffslustiger Riesenadler. Das heranrauschende Fahrrad wird ganz bestimmt im nächsten Moment seine Reißzähne ausfahren, um sie in die Kehle seines wehrlosen Opfers zu schlagen. Angesichts dieses grausigen Schicksals würde doch jeder die Flucht ergreifen, oder?
Beispiel
Seit einigen Jahren besitzt Inka nun schon ihre Traberstute Charly, normalerweise ein zuverlässiges Ausreitpferd. Oft geht sie sogar allein mit ihr ins Gelände, wobei Charly sich meistens brav und entspannt verhält. Seit Kurzem hat Charly jedoch ein Problem mit einer ganz bestimmten Stelle auf ihrer Hofrunde. Dort ist vor einigen Wochen ein weißes Huhn vom Nachbarhof laut gackernd über den Weg geflattert. Charly reagierte sofort! Sie machte auf der Stelle kehrt und galoppierte so schnell wie möglich in Richtung Stall. Trotz des Schreckens konnte Inka sich gerade noch auf dem Pferderücken halten und versuchte sofort, Charly zum Anhalten zu bewegen. Es dauerte einige Zeit, bis sie Inkas Bemühungen bemerkte und sich in den Schritt durchparieren ließ.
Seit diesem Ereignis weigert Charly sich, diese Stelle, an der sie vorher schon unzählige Male problemlos vorbeigegangen war, zu passieren. Auch Hühner hatte sie zuvor schon oft gesehen und meistens gar nicht beachtet. Inka ist seither sehr verunsichert und fragt sich: "Was denkt sich Charly dabei?"
"Eigentlich müsste Charly wissen, dass harmlose Hühner keine gefährlichen Raubtiere sind. Das stimmt natürlich - zumindest aus Menschenperspektive."
Charly kann in dieser Situation gar nicht anders reagieren. Nach ihrer unheimlichen Begegnung der dritten Art mit einem "Pferde fressenden Killerhuhn" erinnert sie sich jedes Mal an dieses Erlebnis, wenn sie an der Stelle vorbeikommt. Sie weiß nicht, dass die potenzielle Gefahr längst wieder verschwunden ist oder dass weiße Hühner normalerweise keine Pferde fressen. Ihr ausgeprägter Instinkt als Beutetier sagt ihr einfach, dass an dieser Stelle ein Jäger auf sie lauern könnte, um sie mit Haut und Haaren zu verspeisen.
Vielleicht denkst du jetzt: "Eigentlich müsste Charly doch wissen, dass harmlose Hühner keine gefährlichen Raubtiere sind." Das stimmt natürlich - zumindest aus Menschenperspektive.
Aber Charly ist ein Pferd. Woher soll sie wissen, dass dieses Huhn ein normales Huhn war? Sie hat keine Ahnung, dass Hühner generell keine Pferde fressen oder dass es bei uns keine Raubtiere gibt. Schlimmer noch: Sie hat keine Vorstellung davon, wie ein Raubtier überhaupt aussieht. Sie denkt nur: "Sie sind da draußen und lauern auf mich."
Ein Blick auf die unterschiedliche Anatomie von Pferd und Mensch zeigt: Pferde fühlen, riechen, schmecken, hören und sehen ihre Umwelt nicht so wie wir. Was wir mit eigenen Augen erblicken, bedeutet für uns Realität. Das ist jedoch nur eine Sichtweise von vielen. Bei