Interpretieren
Wer was wie interpretiert
Interpretieren ist eine »Fertigkeit, die es erlaubt, aus einem Gedicht eine Keule zu machen« (Enzensberger 1988, S. 31). Mit dieser Metapher bringt Hans Magnus Enzensberger 1976 in seinem »[b]escheidene[n] Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie« seine Kritik an einer Praxis auf den Punkt, die einer »Wahnvorstellung«, der »idée fixe von der 'richtigen Interpretation'« (ebd., S. 33) folgt. Angesichts der vielen die Lektüre bestimmenden Faktoren mangle ihr jegliche Plausibilität: »Die Lektüre ist ein anarchischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzige richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln. Ihr Gestus ist demzufolge stets autoritär, und sie ruft entweder Unterwerfung oder Widerstand hervor.« (Ebd., S. 34) Heute ist in der Literaturdidaktik eine Gegenüberstellung von Lektüre und Interpretation nicht mehr in Gebrauch, Lektüre- und Interpretationsprozesse werden anders gefasst. Interpretieren als »Verständigung übers Verständnis« (Spinner 1987, S. 17) setzt den Fokus auf sprachliche Aushandlungsprozesse, die Lektüren vorbereiten, begleiten und durch Anschlusskommunikation erweitern können. Unterschiedlichste Faktoren werden berücksichtigt und in rezeptiv-analytischen sowie handlungs- und produktionsorientierten Ansätzen angeeignet und umgesetzt.
Im Unterschied zur Literaturwissenschaft wird für den Kontext Deutschunterricht allerdings weniger von »einem selbständigen Handlungsimpuls« (Pieper 2015, S. 186) ausgegangen, als das Ziel verfolgt, »einen plausiblen Anlass der Klärung und Verständigung« (ebd.) über Texte zur Verfügung zu stellen. In der Literaturtheorie sind es nicht zufällig genau diese Rahmungen, die strittig sind, die Frage nach den Fragen also, die an Texte herangetragen werden und damit Bedeutung generieren - oder immer weiterfragend dekonstruieren. Verhandelt wird nämlich weniger die Aussage von Literatur, sondern wie lesend Wirklichkeit geschaffen wird. Denn auf welche Weise ermächtigt das Interpretieren dazu, Welt mit- und umzugestalten - oder sie so zu betonieren, wie sie ist?
Die Literaturdidaktik gibt sich oft bescheidener, fokussiert Voraussetzungen des Interpretierens, wie mentale Dispositionen und Teilkompetenzen, die miteinander verflochtenen Prozesse des Verstehens und Deutens sowie bewertbare Interpretationsprodukte. Andererseits bedarf es literaturdidaktischer Erweiterungen, wenn bei der Interpretation »einem Gegenstand - etwa: einem literarischen - [...] im Rahmen sprachlicher Handlungen Bedeutungen zugewiesen« werden (Pieper 2015, S. 186). Denn was ist das, was interpretiert wird, und wie formieren und schulen sich die hinter der Passivkonstruktion verborgenen Akteure? Die SchülerInnen, die LehrerInnen, die Lehramtsstudierenden, die Lehrenden? Die Ordnung des Zuweisens und der Sprachhandlungen wird mit unterschiedlicher Autorität implementiert und immer wieder unterlaufen, die Positionen und Beliefs innerhalb und zwischen Lehrenden und Lernenden unterscheiden sich nicht unwesentlich.
Die Diskussion ist rege und wird auch in vorliegendem Heft entlang praktischer Fragen weitergeführt. Dabei geht es um Konzepte und Modi (Abschnitt 1), um Ziele und Gegenstände des Interpretierens (Abschnitt 2) und um das interpretierende Personal, dessen Zusammensetzung und Schulung (Abschnitt 3). Was wo nachgelesen werden kann, bezüglich literaturwissenschaftlicher Zugänge sowie didaktischer Konzepte und Methoden, hat Stefanie Schwandner1 sorgfältig in der Bibliographie zusammengetragen. Der luzide Kommentar von Hajnalka Nagy zu Michael Köhlmeiers Protestgedicht nähert sich der politischen Dimension von Texten und deren Interpretation anhand eines aktuellen Beispiels und fragt nach Handlungsmöglichkeiten im Deutschunterricht.
In seinem richtungsweisenden Beitrag »Man kann nicht nicht interpretieren« legt Ulf Abraham eine anthropologische Sicht auf das Int