Lernen und Macht
Vorüberlegung
Diese Publikation untersucht die Frage der Macht in Zusammenhängen, die im engeren und im weitesten Sinne als Felder der Pädagogik verstanden werden. Sie unterzieht dazu vorwiegend eigene Explorationen, die in unterschiedlichen Zeiten sowie mit unterschiedlichen Ansätzen entstanden sind, einer phänomenologischen Re-Lektüre und kritischen Re-Vision. Sie stellen in ihrer - nicht nahtlosen und nur durch narrativ-reflexive Brücken herstellbaren - Gesamtheit gewissermaßen meine bisherige Forschungsbiographie dar, die ich als kumulative Habilitationsschrift an der Universität Innsbruck vorgelegt und für diese Publikation noch einmal (leicht) überarbeitet habe.
In der Zusammenfügung von Bausteinen des Denkens, Erörterns, Erforschens und Lernens habe ich dabei weder Hierarchien der wissenschaftlichen Zuordnung noch der zeitlichen Ordnung befolgt. Sie wären in etwa so willkürlich oder berechtigt wie jene von Jorge Luis Borges zitierte chinesische Enzyklopädie (Borges 1966: 212), die Michel Foucault an den Beginn seines Werkes "Die Ordnung der Dinge" stellt (Foucault 1971: 17). Darin werden die Tiere folgendermaßen gruppiert: "a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, c) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen", eine Ordnung, die für Foucault an "die Grenze unseres Denkens" führt (ebd.) und auf ein Nebeneinander verweist, das nicht möglich ist "außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt [...], außer in der Ortlosigkeit der Sprache" (ebd. 19).
Diese Begabung der Sprache, die Wirklichkeit zu erschaffen, von der sie spricht, die Ordnungen zu verlassen, die uns gegeben scheinen, die vermeintliche Natur der Zusammenhänge zu überwinden und neue Zusammenhänge einer ebenso vermeintlichen Kultur zu erstellen, die somit ihrerseits wieder der Dekonstruktion bedürfen, ist die Linse, durch die in der vorliegenden Analyse Macht betrachtet wird. Macht als Frage der Pädagogik wird daraufhin untersucht, ob und wie Menschen im Kontinuum zwischen Macht und Ohnmacht "sprechen" können, wie sie Interessen wahrnehmen, artikulieren, aushandeln und durchsetzen können. Gayatri Chakravorty Spivaks (2008) gleich einfache wie radikale Frage, ob Subalterne sprechen können, weist über das Sprechen als Kommunikation von A nach B hinaus, es nimmt Kommunikation wörtlich als Mit-Teilung, als Teilhabe: Es meint die Macht, natürliche und kulturelle, ökonomische und soziale, private und politische Ordnungen umzustellen, zu verändern, neu zu gestalten, nach eigenen Bedürfnissen auszurichten (vgl. Peterlini 2013a). Sprache wird in diesem Sinne verstanden als Befähigung der Aneignung und Gestaltung von Welt, als Medium des Lernens, Verlernens, Umlernens, Neulernens.
So werden die Explorationen und die darin erörterten Themen in Vor- und Rückwärtsbewegungen, in "Zirkel"- und "Zickzack"-Schritten angeordnet sein, wie es Edmund Husserl (2007b: 266) für die phänomenologische Methode als notwendig beschrieb: "Im Wechselspiel muß eins dem andern helfen" (ebd.), um das jeweils "einseitig" (Husserl 2010c: 172) gegebene Ding in seinen "Wahrnehmungsmannigfaltigkeiten, die, kontinuierlich ineinander übergehend, sich zur Einheit einer Wahrnehmung zusammenschließen" (ebd.), von immer neuen "Seiten" (ebd.) zu erfassen, ohne dass es je ganz erfasst werden könnte. Die zurück- und vorwärtsschreitende, umkreisende und durchkreuzende Reflexionsbewegung entlang und innerhalb von Texten findet ebenso Parallelen in der hermeneutischen Methode, ob als "Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben" im Sinne Diltheys (1982: 213-216), ob als verstehende Vermittlung von Vergangenheit mit der Gegenwart nach Gadamer (1986: 316),