Unsere Welt neu denken
Eine Einladung
»Mitte des 20. Jahrhunderts erfahren die Menschen zum ersten Mal, wie ihr Planet aus dem All aussieht. Vielleicht werden künftige Historiker einmal zu der Einsicht gelangen, daß dieser Anblick unser Bewußtsein grundlegender veränderte, als es selbst der - das menschliche Denken zutiefst erschütternden - kopernikanischen Revolution des 16. Jahrhunderts durch das Verbannen der Erde aus dem Mittelpunkt der Welt gelungen war.«Aus dem »Brundtland-Bericht« der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen
London, Oktober 2019. In der morgendlichen Rushhour klettern zwei Männer auf das Dach einer U-Bahn, sodass diese den Bahnhof nicht mehr verlassen kann. Die Pendler*innen, die mit dem Zug zur Arbeit fahren wollen, stehen vor verschlossenen Waggons. Da die Aktion bald den ganzen Betrieb lahmlegt, wird es auf dem Bahnsteig enger und lauter. Während die Leute langsam verärgert realisieren, dass sie zu spät kommen werden, entrollen die Männer auf dem Zugdach ein Transparent, auf dem steht: »Business as usual = Death«, was so viel heißt wie: Weitermachen wie bisher bedeutet den Tod.
Im Fall der Pendler*innen hätte weitermachen wie bisher bedeutet, zur Arbeit zu gehen. In ein Büro etwa oder in eine Fabrik. Sich an einen Computer zu setzen, in eine Konferenz, an eine Maschine, etwas herzustellen oder in Auftrag zu geben. Umsatz und Gewinn zu steigern, zum Wachstum beizutragen, den eigenen Job, die eigene Existenz zu sichern. Um Miete zu zahlen, Kredite zu bedienen und den Kindern und sich etwas kaufen zu können. Kurz: weiterzumachen mit dem Leben, wie Sie, wie wir alle es kennen und gewohnt sind.
Was kann daran falsch, ja sogar tödlich sein?
Die beiden Männer, die an diesem Londoner Herbsttag auf dem Zug stehen, gehören zu einer Gruppe von Umweltaktivist*innen, die sich »Extinction Rebellion«1 nennt, was so viel bedeutet wie »Aufstand gegen das Aussterben«. Wobei das Aussterben, gegen das sie rebellieren, nicht bloß das der tierischen Arten meint, das wir in so rasant ansteigendem Ausmaß in Kauf nehmen. Es geht ihnen nicht nur um Wale, Bienen oder Eisbären. Nein, sie meinen ganz ohne Ironie das Aussterben der eigenen Art, der Menschheit. Also uns.
Verglichen mit Greta Thunberg - jenes Mädchen, das mit einem Schulstreik eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte der Menschheit ausgelöst hat - sind die Mitglieder von Extinction Rebellion die zivil Ungehorsamen unter den Klima- und Umweltschützer*innen. Sie verlangen von der Politik zwar auch, dass sie endlich nachhaltig etwas gegen die Erderwärmung unternimmt, und unterbreiten dafür konkrete Vorschläge. Aber sie gehen nicht nur demonstrieren, sondern blockieren öffentliche Abläufe, oft in bunten Kostümen und mit der Grundregel, immer freundlich zu bleiben. An jenem Londoner Herbsttag sperren Hunderte Aktivist*innen Straßen, ketten sich an Brücken oder kleben sich in der Eingangshalle eines Flughafens fest. Sie wollten ohne Gewalt und für so viele Menschen wie möglich spürbar das unterbrechen, was sie für die wahre Ursache des Klimawandels und der ausufernden Zerstörung von Leben halten: unseren ganz normalen Alltag.
Für die Leute, die an diesem Morgen nicht in ihren Zug steigen können, ist das so schwer auszuhalten, dass sie die zwei Aktivisten mit Sandwichs und Getränken bewerfen. Als das nichts hilft, klettert einer der Pendler schließlich nach oben und zieht die Männer vom Dach auf den Bahnsteig hinunter, wo sie von der wütenden Menge verprügelt werden, noch bevor die Polizei eingreifen kann und sie schließlich festnimmt.
Bei dieser Konfrontation ging es nicht um ein nährendes Stück Brot, um einen Schluck sauberes Wasser, ein schützendes Dach über dem Kopf oder um den letzten Liter Benzin. Es ging nur um ein paar Minuten Verspätung auf dem Weg zur Arbeit. Die einen wollen die Welt retten, die anderen wollen ins Büro. Die einen wollen mit Gewohnheite