Warum Liebe endet
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Einleitung: Von der Wahl zur Nichtwahl
Ich bin nur ein Chronist, meine Arbeit soll davon handeln, was es heißt, heute zu leben.
- Marc Quinn
Verstehen, dass man, um subversiv zu sein, vom Individuellen zum Kollektiven übergehen muss.
- Abd Al Malik
Ich frage [die Menschen] nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. [...] Das ist die einzige Möglichkeit, die Katastrophe in den Rahmen des Gewohnten zu zwingen und etwas darüber zu erzählen.
- Swetlana Alexijewitsch
Zu sehen, was sich vor der eigenen Nase befindet, bedarf ständiger Anstrengung.
- George Orwell1
Die westliche Kultur ist unendlich reich an Darstellungen und Geschichten, die vom wundersamen Erscheinen der Liebe im Leben der Menschen handeln - von jenem magischen Augenblick, in dem wir wissen, dass jemand für uns bestimmt ist; vom fieberhaften Warten auf einen Anruf oder eine E-Mail; vom wohligen Schauer der Erregung, der uns beim bloßen Gedanken an ihn oder sie durchströmt. Verliebt sein heißt, zur Platonikerin zu werden: durch eine Person hindurchzusehen auf eine Idee, auf etwas im umfassenden Sinne Makelloses.2 Unzählige Romane, Gedichte und Filme lehren uns, in dieser Hinsicht Platons Schülerinnen und Schüler zu werden, unterweisen uns also in der Kunst, die Vollkommenheit zu lieben, die sich in der geliebten Person manifestiert. Erstaunlicherweise ist diese Kultur, die doch so viel über die Liebe zu sagen hat, aber eher wortkarg, wenn es um den nicht weniger 12mysteriösen Moment geht, in dem wir es vermeiden, uns zu verlieben, oder uns entlieben; in dem uns die Person, die uns schlaflose Nächte bereitete, auf einmal gleichgültig ist oder wir auf Abstand gehen zu denjenigen, die uns noch vor wenigen Monaten oder gar Stunden in helle Begeisterung versetzt haben. Dieses Schweigen ist umso verwunderlicher, als die Zahl der Beziehungen, die schon bald nach ihrem Beginn wieder enden oder irgendwann im Laufe ihrer emotionalen Entwicklung zerbrechen, schwindelerregend hoch ist. Vielleicht weiß unsere Kultur nicht, wie sie dieses Phänomen darstellen oder darüber nachdenken soll, weil wir in und durch Geschichten und Dramen leben, sich zu »entlieben« aber kein Plot mit einer klaren Struktur ist: Meistens beginnt dieser Prozess nicht mit einer Eröffnung, einer Offenbarung, sondern im Gegenteil: Manche Beziehungen schlafen ein oder lösen sich auf, noch bevor oder bald nachdem sie richtig angefangen haben, während andere einen langsamen und rätselhaften Tod sterben.
Und doch bedeutet der Vorgang, in dem Liebe endet (oder gar nicht erst richtig beginnt), aus soziologischer Perspektive sehr viel, da es hier um die Auflösung sozialer Bindungen geht, die wir seit Emile Durkheims bahnbrechender Studie Der Selbstmord womöglich als das zentrale Thema der soziologischen Forschung verstehen müssen.3 In der vernetzten Welt der Moderne aber tritt eine Anomie - der Zusammenbruch der sozialen Beziehungen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts - nicht in erster Linie in Gestalt von Entfremdung oder Einsamkeit auf. Vielmehr scheint die Auflösung (potentiell oder realiter) enger und intimer Bindungen stark mit dem Wachstum (realer oder virtueller) sozialer Netzwerke, mit Technologie und einer beeindruckenden ökonomischen Beratungs- und Lebenshilfemaschinerie zusammenzuhängen: Psychologen aller Art, Talkshow-Moderatoren, die Porno- und die Sexspielzeugindustrie, die Selbsthilfebranche, Einkaufspaläste und Konsumtempel - sie alle 13sorgen für den permanenten Prozess des Knüpfens und Lösens sozialer Bindungen. Begriff die Soziologie Anomie traditionell als eine Folge von Isolation und mangelnder Zugehörigkeit