Das Jahr ohne Sommer
Des Wuchers höllisches Ungetüm und das weite Feld des Verderbens. Die Entwicklung der Hungersnot von 1816/17 in der Ostschweiz, im Kanton St. Gallen und in der Region Werdenberg
HANSJAKOB GABATHULER
Kein Elend sehen, verweichlicht; keine Arme sehen, macht hochmüthig; keine Hungrige sehen, macht unzufrieden und undankbar. Aber durch solche Anblicke kommen häßliche Bilder in die Seele, und bleiben darin hängen.1 Das Zitat ist dem 1820 erschienenen Bericht von Peter Scheitlin über seine "Armenreisen in den Kanton Glarus und in die Umgebungen der Stadt St. Gallen in den Jahren 1816 und 1817" entnommen. Auf dieses Elend und die häßlichen Bilder, hervorgerufen durch die letzte grosse Heimsuchung der Schweiz durch den Hunger, sollen im Folgenden einige Schlaglichter geworfen werden, akzentuiert auf die Region Werdenberg, ausgeweitet aber auch auf den Kanton St. Gallen und die übrige Ostschweiz.
Dazu liegen etliche zeitgenössische Berichte vor, die ein teils drastisches, stets berührendes Bild der Zeitumstände geben. Sie lassen zudem erkennen, wie damalige Beobachter die Verhältnisse deuteten und einordneten. Besonders ausführlich und aussagekräftig sind der erwähnte Reisebericht des St. Galler Pfarrers und Gelehrten Peter Scheitlin (1779-1848)2 und das Werk des ebenfalls aus der Stadt St. Gallen stammenden Pfarrers, Lehrers und Mitglieds der St. Galler "Hülfsgesellschaft" Ruprecht Zollikofer.3
Vom Freudentaumel zum Wermutskelch
Vom europäischen Umbruch in der Zeit von 1798 bis 1815 war die Schweiz direkt betroffen. Als Vasallenstaat Frankreichs zu einer Offensiv- und Defensivallianz genötigt, hatte die Eidgenossenschaft schon in den napoleonischen Kriegen erbärmlich zu leiden. Auf den Freudentaumel, der 1798 durch den Einmarsch der Franzosen und den Fall des Ancien Régimes auch im Werdenberg ausgelöst worden war, folgten die Nöte der Einquartierungen. Bereits um 1800 kam es zu einer ausgeprägten Hungerkrise, die noch verschärft wurde durch die Requisitionen der an der Sankt Luzisteig lagernden Truppen General André Massénas, der sein Hauptquartier in Azmoos aufgeschlagen hatte. Eine grosse Zahl Notleidender - vor allem Kinder aus den Krisengebieten der Kantone Linth und Säntis - wurde vorübergehend in andern Teilen des Landes aufgenommen, namentlich in den Kantonen Bern und Basel.4
Gemeindepräsident Sulser aus Azmoos berichtete in einem zeitgenössischen Rückblick: Unser Ort, vor der Revolution wohlhabend, wurde schon durch diese so zerrüttet, dass viele Haushaltungen durch die immerwährenden Einquartierungen ganz ruiniert wurden. Durch [...] Einschränkung glaubte mancher gebeugte Hausvater wieder aufkommen zu können, allein die aufeinander gefolgten Missjahre haben ihn nicht nur in die vorige, traurige Lage versetzt, [...] er befindet sich [...] sogar dem äussersten Elend, der grössten Hungersnot, preisgegeben. [...] Geld-, verdienst- [und] kreditlos staunt er und denkt seinem Schicksal nach.5
Die lange Kriegszeit nach 1798 hatte die Randregion Werdenberg durch die drückenden Lasten besonders hart mitgenommen. "Zwanzig Jahre des Krieges hatten die Staatenordnung aufgelöst; der Wohlstand war erschüttert [...]. Mit dem zweiten Pariser Frieden [20.11.1815] kehrte nun das Schwert in die Scheide zurück, der Kanonendonner verhallte, und in Hütten und Palästen erwartete männiglich den Anbruch goldener Zeiten. Aber im Rate des Höchsten war es anders beschlossen; der Wermutskelch sollte geleert werden bis auf dessen unterste Hefe".6
Die Kette unheilvoller Ereignisse
Als Hauptursache der Krise von 1816/17 gelten der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien und dessen globale klimatische Auswirkungen.7 Daneben kam es zu einer Häufung weiterer Faktoren, die sich zu einer Kette unheilv