Abschied vom Mythos
Prolog
»Wir haben es vielleicht nicht so mit dem Produzieren, aber kämpfen können wir gut!«
Fidel Castro 1970
Havanna, Anfang November 2015: Nach stundenlanger Busfahrt erreiche ich das Hotel »Inglaterra«. In der schwülwarmen Abendluft drängen sich Taxifahrer mit ihren aufpolierten Oldtimern vor dem Eingang. Drinnen wimmelt es von Gästen, die Bar ist dicht umlagert, die Lobby voller Leute. Nur für mich ist hier kein Platz. »Sie sind bei mir nicht gebucht«, lautet der Bescheid der strengen Rezeptionistin. Ich überreiche ihr meine Reservierung vom August. »Tut mir leid, wir sind hoffnungslos überbucht.«
Ich bin sauer und muss meinen Unmut unterdrücken. Später wird mir bewusst, dass man solche Gespräche in Kuba doch ganz anders führt. Am Anfang steht ein schmeichelndes amorcita (Liebchen) oder papíto (Väterchen), gefolgt von einem verharmlosenden, mit Diminutiven gespickten Anliegen. Etwa: »Weißt du, ich habe da ein klitzekleines Problemchen, eigentlich nicht der Rede wert. Ich bräuchte ein Zimmerchen - kein Ding, ich weiß, aber vielleicht findest du in deinem Computerchen noch eins. In meiner Hand warten auch ein paar 'chavitos' - was meinst du?«
An diesem Abend, wie auch an jedem anderen zu dieser Zeit, hätte auch diese Dramaturgie ihren Zweck verfehlt. Das touristische Havanna ist voll, platzt aus allen Nähten. Es herrscht eine stille Verabredung: Alle Welt will noch einmal nach Kuba, bevor ...
Bevor was?
Es liegt ein Duft von Veränderung in der Luft. Nur will es niemand so deutlich sagen. »Ich will Kuba noch so sehen, wie es vielleicht nicht mehr sein wird« oder »Jetzt ist es noch so ursprünglich, wer weiß, bald sieht es aus wie überall.« Mich befällt eher Schwermut, wenn ich sehe, dass es immer noch so aussieht wie beim letzten Mal. Und es tut mir innerlich weh, wenn die Neuankömmlinge von Havannas Altstadt jenseits der Touristenmeile angesichts der einstürzenden Altbauten von einem »Kriegsgebiet« sprechen.
In den 80er Jahren war ich mehrmals hier, arbeitete mit Kubanern, hatte Freunde, von denen kaum noch jemand da ist. In den 90er Jahren habe ich den Zusammenbruch des Sozialismus auf der Insel erlebt - und ich war im Sozialismus nicht auf Urlaub, sondern habe zuvor 37 Jahre meines Lebens in der DDR gelebt und erkenne Details und Strukturen wieder.
Mit der »Chronik der Wende«, die von der ARD in 167 Folgen als Dokumentationsserie verfilmt wurde, haben Christoph Links und ich 1989 den Abschied einer Gesellschaft im Alltag dokumentiert, in »Am Ziel vorbei« 15 Jahre später zogen wir mit zahlreichen Autoren eine Zwischenbilanz. Jetzt geht es mir um die Frage, was sich in sechs Jahrzehnten seit dem Sieg der Revolution in Kuba entwickelt hat.
Doch kann man das nicht besser aus dem Land selbst heraus beurteilen?
Marcel Kunstmann aus Jena studiert derzeit in Havanna und betreibt den Blog »Cuba heute«. Er schreibt: »Es ist einfacher aus dem Ausland über Kuba zu schreiben als innerhalb des Landes. Ohne Internet sind wir nicht nur uninformiert, was außerhalb Kubas vorgeht, wir wissen nicht einmal, was um uns herum passiert. Selbst wenn wir regelmäßig die Zeitung lesen, so müssen wir den kondensierten Kaffeesatz von wortkargen Versammlungsberichten als Interpretationsrichtschnur für die nächsten Schritte der Regierung verwenden.«
Das vorliegende Buch ist keine rein subjektive Sicht auf die Dinge, es ist auch keine wissenschaftliche Arbeit. Mein Ziel war es, zusammenzutragen, was sich wie ereignet hat und warum es so gekommen ist. Ich betrachte die Dinge von außen und bemühe mich, keine Schuld zuzuweisen. Jede der beteiligten Seiten hatte Gründe für ihr Handeln, manchmal gute - manchmal weniger gute. Am Ende steht die Frage: Hat sich das große Gesellsch