Finale
Um 17 Uhr waren Tausende Menschen in den vier großen Kirchen der Leipziger Innenstadt versammelt. Doch als das wahre Ausmaß der Demonstration erkennbar wurde, erwies sich das Handlungskonzept der Bezirkseinsatzgruppe als obsolet. Später wurde anhand von Filmaufnahmen rekonstruiert, dass 70 000 Menschen auf der Straße waren, um die politischen Verhältnisse in der DDR zu ändern. Es war das Vielfache der angenommenen Menge. Einsatzleiter Hackenberg rief Erich Honecker an, der war nicht zu sprechen. Krenz bat um Bedenkzeit.
Während die Demonstranten über den Georgiring zum Hauptbahnhof liefen, ertönte plötzlich die Erkennungsmelodie des Stadtrundfunks. Nach 1945 hatte die Sowjetische Militäradministration an allen zentralen Plätzen Lautsprecher anbringen lassen, um ihre Befehle zu verkünden. Die Stadtverwaltung hatte diese Kommunikationsform beibehalten. Zehntausende von Demonstranten hörten die Stimme von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Der verlas einen Aufruf, den der Theologe Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und drei lokale SED-Funktionäre verfasst hatten: »Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung.« Masur verlangte einen »freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land«, der »auch mit unserer Regierung geführt« werden müsse. »Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.«
Die Demonstration verlief ohne Zwischenfälle. Um 18.35 Uhr verzeichnete das Protokoll der Bezirksverwaltung des MfS: »Vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung / Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung.« Schon am Abend sendeten die Westsender ARD und ZDF Berichte von der Leipziger Großdemonstration. Die Oppositionellen Siegbert Schefke und Aram Radomski waren trotz mancher Hindernisse von Ost-Berlin nach Leipzig gekommen, hatten sich im Turm der evangelisch-reformierten Kirche am Tröndlinring postiert und die Demonstration mit der Kamera dokumentiert. Spiegel-Korrespondent Ulrich Schwarz brachte die Kassetten nach West-Berlin, wo sie der aus der DDR ausgewiesene Dissident Roland Jahn in der Redaktion der Sendung Kontraste aufbereitete. Nun wurde die Ohnmacht der DDR-Führung für die ganze Welt sichtbar. Eine Woche später versammelten sich in Leipzig 120 000 Demonstranten, und am 23. Oktober waren es schon etwa 300 000.
Z - Hans-Joachim Hanewinckel über den Gewalteinsatz in Halle »Für den 9. Oktober 1989 um 17 Uhr hatten wir zur ersten Demonstration in Halle an der Marktkirche eingeladen. Sitzend, mit Blumen und Kerzen, wollten wir schweigend für das Hierbleiben eintreten, Reformen anmahnen und die Freilassung der zu Unrecht Inhaftierten fordern. Die Kirche sollte für den Notfall geöffnet sein. Als wir ein Transparent aus der Kirche trugen, um es draußen auszubreiten, sahen wir, dass ein Polizeikessel um uns gebildet wurde. Bis 17 Uhr konnte man noch bis zur Kirche gelangen, aber nicht mehr zurück. Einige der Pfarrer (in Talar) suchten daraufhin das Gespräch mit den Sicherheitskräften, von der Bereitschaftspolizei bis zur Stasi war ja alles vertreten. Auch ich bin ich auf die Polizeikette zugegangen und habe gebeten, den Kessel wieder zu öffnen, damit jene, die noch draußen waren, zu uns reinkommen konnten. Als das an einer Stelle gelang, hat es großen Applaus gegeben. Sofort stürzten Offiziere dazwischen und haben die Polizeikette wieder geschlossen. Mir wurde verboten, mit den Uniformierten weiterhin zu sprechen.
In der Zwischenzeit hatten sich viele Bürger und Bürgerinnen in die Kirche zu einem spontanen Friedensgebet zurückgezogen. Mit Polizei und Staatssicherheit konnte dann ausgehandelt werden, dass alle, die in der Kirche am Gebet teilgenommen hatt