Mythos Trümmerfrauen
Einleitung
Am 24. Mai 2012 titelte die Frankfurter Rundschau in großen Lettern »Stunde der Trümmergirls«.1 Von »Girls« handelte der dazugehörige Artikel nicht wirklich und mit realen »Trümmern« hatte er rein gar nichts zu tun. Gleichwohl hätte die Redaktion kaum ein eindrücklicheres Bild für ihren Leitartikel finden können. Worum es darin eigentlich ging, darüber gab der Untertitel etwas mehr Aufschluss: »Oskar Lafontaine ist weg, die Linke zerlegt sich weiter. Ein Frauenkollektiv meldet sich zum Wiederaufbau.«2 Hintergrund der Schlagzeile war demnach die aktuelle parteipolitische Krise der Linkspartei: Nach gerade verlorenen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sowie internen Streitigkeiten und Affären lag die Partei fast vollständig zerstört am Boden. Zu allem Übel hatte Lafontaine, einer der Gründungsväter der Partei, seine in Aussicht gestellte Kandidatur für die Parteiführung nun auch noch zurückgezogen. Für einen Neubeginn stand er nicht mehr zur Verfügung. Als Reaktion darauf hatten die 34-jährige Katja Kipping, stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei, und die 1972 geborene Katharina Schwabedissen, gescheiterte NRW-Spitzenkandidatin, erklärt, »sie wollten die Linkspartei als weibliches Führungsduo aus der Krise führen«.3 Was eine ganze Reihe von vor allem männlichen Spitzenfunktionären - allen voran Oskar Lafontaine - mutmaßlich zerstört hatte, wollten die beiden jungen Frauen also wieder aufbauen. Ausgelöst durch eine Pressekonferenz, auf der die Politikerinnen ihre politischen Ambitionen verkündeten, waren sie von der Frankfurter Rundschau zu den »Trümmergirls« der Linken ernannt worden. Diese kleine semantische Abweichung konnte sich die Redaktion ohne weiteres erlauben, denn ansonsten saß der Vergleich: Genauso wie die »Trümmerfrauen« nach dem Zweiten Weltkrieg selbstlos damit begonnen hatten, die Trümmer zu räumen, die der Krieg der Männer hinterlassen hatte, genauso wollten jetzt die »Trümmergirls« der Linken die Ärmel hochkrempeln, um ihrer Partei zu neuer Blüte zu verhelfen.
Um diesen so geschickt konstruierten Vergleich auf Anhieb verständlich zu machen, bedurfte es freilich keinerlei Erklärungen. Denn die Redaktion der Frankfurter Rundschau konnte getrost davon ausgehen, dass ihre Leserschaft selbst darauf kam. Schließlich nimmt die »Trümmerfrau« im kollektiven Gedächtnis der heutigen BRD einen prominenten Platz ein. Darauf hat unlängst Marita Krauss in ihrem - für das Gesamtkonzept dieser Arbeit generell sehr inspirierenden Aufsatz - »Trümmerfrauen. Visuelles Konstrukt und Realität«, verwiesen. Darin konstatiert sie, dass die »Trümmerfrau« gegenwärtig zum festen Repertoire nahezu jeder historischen Darstellung der Nachkriegszeit gehört, ganz gleich, ob in TV- und Printmedien, in Schulbüchern oder in Ausstellungen der führenden historischen Museen, wie dem DHM in Berlin. Außerdem weist sie darauf hin, dass es seit Anfang der 1950er Jahre bis in unsere unmittelbare Gegenwart in den unterschiedlichsten Städten immer wieder zur Errichtung von »Trümmerfrauen«-Denkmälern gekommen ist.4
Somit muss hinzugefügt werden, dass die »Trümmerfrau« nicht nur »längst Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden ist«,5 sondern als »spezifischer Eintrag« in demselben als deutscher Erinnerungsort gelten kann.6 Dass die »Trümmerfrau« in dem dreibändigen von Etienne Françoise und Hagen Schulze herausgegebenen Sammelwerk Deutsche Erinnerungsorte nicht vertreten ist, tut dieser Behauptung keinen Abbruch.7 Denn die beiden Herausgeber haben selbst darauf hingewiesen, dass die »Menge der Erinnerungsorte kaum überschaubar« ist und ihre Auswahl schon allein deswegen keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben kann.8 Diesen erheben sie auch gar nicht, sondern verstehen das 'Projekt' der deutschen Erinnerungsorte vielmehr als