Kunst und Rivalität
EINLEITUNG
Während eines Japanaufenthalts im Jahr 2013 nahm ich den Hochgeschwindigkeitszug von Fukuoka nach Kitakyushu, um mir ein Gemälde von Edgar Degas anzusehen. Wenn man für ein einzelnes Kunstwerk eine weite Reise auf sich nimmt, hat man oft unrealistische Erwartungen. Man macht sich in der frommen Vorfreude des Pilgers auf den Weg, und wenn es am Ziel der Pilgerfahrt zu der lang ersehnten Begegnung mit dem Meisterwerk kommt, fühlt man sich verpflichtet, eine Begeisterung zu empfinden, die all die geistige Einstimmung, den Zeitaufwand und die Kosten rechtfertigt. Entweder man ist glücklich oder man fühlt eine herbe Enttäuschung.
Aber bei dieser Reise nach Japan empfand ich weder das eine noch das andere. Bei dem Bild, dem ich nachgereist war, handelte es sich um ein Doppelportrait [_Bildtafel_6_] von Degas' Freund Édouard Manet und dessen Frau Suzanne. Es zeigt einen bärtigen, adrett gekleideten Manet, der mit auf die Hand gestütztem Kopf und angezogenem Bein halb auf einem Sofa liegt und versonnen ins Leere schaut. Suzanne sitzt mit dem Rücken zu ihm am Klavier.
Das Bild ist eher klein - man könnte es hochhalten, ohne die Arme allzu weit ausbreiten zu müssen. Und es wirkt frisch, so frisch, dass man den Eindruck hat, es sei erst gestern gemalt worden. Es hat nichts Rhetorisches und erhebt keine großen Ansprüche, sondern wirkt fast distanziert, neutral, angenehm frei von Illusionen und falschen Gefühlen.
Aus all diesen Gründen (und trotz meiner bemühten Pilgerfahrt) gab das Gemälde keinen Anlass zur Enttäuschung. Gleichzeitig weckte es auch nicht das Bedürfnis nach emotionaler Überhöhung. Stattdessen versank ich in seiner eigentümlichen Gelassenheit.
Es war mir bekannt, dass Degas und Manet enge Freunde gewesen waren. Aber dieses Bild drückt emotionale Zurückhaltung aus, die wiederum eine nicht vollkommen geklärte Ambivalenz heraufbeschwört. Es ist nicht klar, ob Manet auf dem Bild in trübseliger, stumpfsinniger Agonie, in einer Art von aufzehrender Lethargie verharrt, während er seiner Frau zuhört (die übrigens eine herausragende Pianistin war), oder ob er sich dem Genuss der Musik in entrückter Trägheit hingibt, die ihn vollkommen von allem abschottet, was sein köstliches geistiges Dahintreiben unterbrechen könnte.
Die Manets saßen ihrem Freund im Winter 1868_/_69 Portrait. Es war gerade ein halbes Jahrzehnt her, dass Édouard Déjeuneur sur l'herbe (Frühstück im Grünen) und Olympia gemalt hatte, jene beiden Werke, die bei den Kritikern nur empörte Ablehnung hervorgerufen hatten und von der Öffentlichkeit mit Spott überhäuft worden waren. (Heute sind sie indes die beiden berühmtesten Gemälde ihrer Zeit.) Mit diesen Werken hatte ein erstaunlicher mehrjähriger Schaffenssturm Manets begonnen, aber die wütende Geringschätzung der Öffentlichkeit hatte er nicht brechen können. Er festigte lediglich seinen Ruf als ruchloser künstlerischer Außenseiter.
Welchen Preis hatte er dafür gezahlt_? Malte Degas im Jahr 1868 einen von seiner herkulischen künstlerischen Kraftanstrengung erschöpften und von der allgemeinen Ablehnung zermürbten Mann_? Oder hatte er etwas Subtileres und Geheimnisvolleres im Sinn_?
An diesem Punkt muss ich erklären, dass ich nicht nach Japan gekommen war, um mir das Bild anzusehen, wie Degas es gemalt hatte_: Ich wollte sehen, was davon übrig geblieben und nicht vollkommen repariert worden war. Denn nicht lange nach seiner Fertigstellung war ein Teil des Bildes mit einem Messer abgetrennt worden. Suzannes Gesicht und Körper wurden durchgeschnitten.
Es war nicht das Werk eines verwirrten Museumsbesuchers - eines jener Sonderlinge, die Säure über einen Rembrandt schütten oder eine Skulptur von Michelangelo mit einem Vorschlaghammer attackieren. Nein, der Täter war Manet selbst. Und das gibt Grund zur Betroffenheit. Denn alle Welt liebte Manet (das heißt alle, die ihn persönlich kannten,