Die Tänzerin von Auschwitz
ROOSJE
Die gebrochenen Flügel der Liebe
Im Sommer 1934 gingen Boy und ich an einem schönen Sonntagnachmittag im Zentrum Nijmegens spazieren. Ab und zu warf ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf unser Spiegelbild in einem Schaufenster. Es hätte mich nicht gewundert, wenn man uns für ein Paar gehalten hätte. Boy war einundzwanzig, ich war fast zwanzig. Einen Moment lang regte sich eine Sehnsucht nach Liebe in mir. Doch Boy war ein Kumpel für mich: Wir tanzten miteinander, wir spielten Tennis, wir gingen schwimmen. Von einem gelegentlichen kleinen Flirt abgesehen, waren wir nur gute Freunde.
Das Hupen eines vorbeifahrenden Autos holte mich in die Wirklichkeit zurück.
Boy blieb stehen. "Der hupt deinetwegen, Roosje."
"Ach ja? Verliebte Autos interessieren mich aber nicht die Bohne."
"Der Fahrer hat dich angeschaut, als würde er dich kennen. Wer war das?"
"Keine Ahnung", sagte ich gleichgültig. "Komm weiter."
Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Abend, dann wollten wir uns in der Vereeniging mit Freunden zum Tanzen treffen. Ich ging mindestens zweimal pro Woche in die Vereeniging. Sie war berühmt in Nijmegen, ein Prachtbau mit den verschiedensten Sälen, Wandelgängen und Bars. Der große Saal fasste eintausendsechshundert Personen und wurde im Winter für Konzerte, Revuen, Opern-, Operetten- und Theateraufführungen genutzt. Das Foyer war grandios: ein Tanzparkett aus Mahagoni, behagliches burgunderfarbenes Mobiliar und an der Decke rotierende Spiegel. Es gab ein Winter-Café mit Unterhaltungsmusik, und im Sommer spielte eine hervorragende Tanzkapelle. Alle zwei Wochen fanden internationale Kabarettabende statt.
Als Kind hatte ich meine Eltern oft von der Vereeniging reden hören, und immer wenn ich den Keizer Karelplein überquerte, hatte ich sehnsüchtig zu dem Gebäude hinübergeschaut. Es erschien mir geradezu märchenhaft, ein Ort nur für Erwachsene. Um es betreten zu dürfen, musste man mindestens sechzehn und außerdem Mitglied sein.
Durch eine Laune des Zufalls gelangte ich in den Besitz der Mitgliedskarte meines Vaters. Nach dem Tod seiner Mutter hielt er das Trauerjahr ein, und für meine kleinbürgerlich aufgewachsene Mutter war es undenkbar, allein auszugehen. Aus Rücksicht auf meinen Vater versuchte ich, mir meine Freude nicht anmerken zu lassen, aber die Karte war ein Geschenk des Himmels für mich.
Jeden Donnerstag begleitete ich nun meine Mutter zu einem wunderbaren Konzert im großen Saal der Vereeniging. Ganz besonders genoss ich die Klavierkonzerte. So lernte ich zahlreiche Werke der klassischen Musik kennen, und auch das Publikum wurde mir vertraut. Für eine Fünfzehnjährige wie mich war das ein aufregender Vorgeschmack auf das Erwachsensein, und es machte Appetit auf mehr.
Es gab dort viel zu sehen: Damen, die während des ganzen Konzertes Süßigkeiten naschten und mit dem ständigen Geraschel alle verrückt machten, ältere Herren, die ihr Opernglas ungeniert auf das Publikum richteten statt auf die Bühne, Besucher in feiner Abendgarderobe, aber ohne jedes Interesse für klassische Musik, die binnen Minuten friedlich einschlummerten, aber auch fanatische Musikliebhaber, die Note für Note die Partitur mitlasen, um den Dirigenten bei einem Fehler zu ertappen.
Und dann die Pausen, in denen die Leute durch die langen Wandelgänge mit den hohen Spiegeln flanierten, Gedanken austauschten und auf eine Tasse Kaffee dem Foyer zustrebten.
Ich genoss jede Minute und sah mich so begierig um, dass meine Mutter mich oft fragte: "Sag mal, Roosje, suchst du jemanden?"
"Nein, Mutter", antwortete ich dann, "ich sehe mir nur so gern die Leute an. Ich komme mir vor wie im Zoo. Schau dich um - ich sehe da Affen, Esel, Füchse, Eulen, Schweine, Elefanten, Papageien und Raubvögel."
Doch nicht nur dieser Vorgeschmack auf das Erwachsensein machte die Vereeniging zu etwas ganz Besonderem für mich. Sie rief auch meine erste Liebe wied